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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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es 21.30 Uhr. Wir bleiben eine Stunde und dann gehen wir. Das ist machbar. Hast du überhaupt Lust dazu? Ja, dachte er, es wird mir gut tun. Und außerdem würde Suzanne nichts davon erfahren: Einverstanden, sagte er, aber nur eine Stunde, nicht länger.

3.
    Simon war auf ein letztes Glas in einer tristen Provinzbar gefasst. Und danach sah es auf den ersten Blick auch aus.
    Während der Ingenieur zum dritten Mal versuchte, seinen Wagen in eine Lücke einzuparken, in die zwei von derselben Bauart gepasst hätten, seiner und Suzannes, betrachtete Simon das Clubschild.
    Ein aus dem Wasser springender Delfin. Der fröhliche Kopf des Meeressäugers, die Hälfte seines Bauchs, die Wellenlinie des Meeres, alles war in einem einzigen grünen Neonstrich gezeichnet. Und sollte tatsächlich jemand, dachte Simon, am Rande der Übelkeit und nahezu seekrank, weil die ergebnislosen Parkmanöver des Ingenieurs ihn mitsamt dem gerade genossenen Abendessen immer wieder vor- und zurückwarfen, sollte tatsächlich, zwang er sich zu denken, jemand Zweifel an der Identität des Tiers und der Farbe der Neonröhre haben, steht da ja auch noch groß und breit und in Buchstaben aus ebendenselben grünen Neonröhren »Le Dauphin vert«. Gehen wir?, fragte der Ingenieur ein wenig atemlos.
    Sie überquerten die Straße. Er klagte über seine schmerzenden Arme. Das verstehe ich nicht. Was? Dass dieser Wagen keine Servolenkung hat, sagte der Ingenieur. Darüber beschwert sich meine Frau auch immer, sagte Simon. Tatsächlich? Ja, sie hat den gleichen Wagen. Gehen wir rein?, fragte der Ingenieur. Deshalb sind wir doch hier, oder?, dachte Simon.
    Eine Viertelstunde Fahrt, fünf Minuten Einparken, es war 21.35 Uhr. Uns bleibt einfach nicht genug Zeit, dachte er und betrachtete die auf ihn zukommende Tür. Was soll’s, gehen wir rein. Ich glaube kaum, dass hier Musiker auftreten. Und wenn doch, ist es noch zu früh. Die fangen normalerweise gegen 22 Uhr an, frühestens. Zu meiner Zeit jedenfalls war es so. Na ja, macht auch nichts, dann warten wir eben. Wenn überhaupt welche da sind. Und sonst hören wir Platten. Wann ging noch mal mein Zug? 22.58 Uhr? Oder?
    Die Tür ließ eine unterdrückte, eine wütende, weil eingeschlossene Musik frei. Es hätte irgendwelches Gedudel sein können, es war Coltrane. Wenn man so etwas beim Reinkommen voll abkriegt, erschüttert es einen. Simon war erschüttert.
    Wie gewöhnlich zerpflückte der Tenorsaxofonist ein altes Thema. Das Thema war kaum wiederzuerkennen. Coltrane schon, den hätte man unter Tausenden erkannt, an seiner Art, alles zu verjüngen, bevor er es tötete.
    Simon hörte versteinert zu und dachte, während er zuhörte, was er immer gedacht hatte: Voilà, das nennt man Stil. Und ich?, dachte er, er konnte kaum weitergehen, so voll war es. Hatte ich einen Stil? Zumindest wurde es behauptet. Ja, schon, aber was die Kritiker dachten, und was ich wusste. Kurzum, der Ingenieur ging vor ihm her.
    Simon sah ihn mit der müden Schönen verhandeln, die hinter dem Tresen die Stellung hielt. Das traf es wirklich. Sie schien ihren belagerten Tresen zu verteidigen. Es ist voll, dachte Simon, ich bin müde, gehen wir doch einfach wieder.
    Der Club im Keller ist offen, sagte der Ingenieur. Die Musiker kommen erst um zehn. Was machen wir? Simon sah auf die Uhr. Es war zwanzig vor zehn. Wie lange brauchen wir von hier bis zum Bahnhof?, fragte er. Zehn Minuten, erwiderte der Ingenieur.
    Gut, sagte Simon, wir gehen runter, trinken etwas, warten auf die Musiker, hören eine halbe Stunde zu und gehen, wär Ihnen das recht? Mir? Aber ja!, erwiderte der Ingenieur, als wollte er sagen, Sie wissen doch, für Sie tu ich alles. Also gehen wir, sagte Simon.
    Der Ingenieur bahnte sich einen Weg durch die Menge, die Leute hatten sich wegen des Andrangs am Tresen mit ihren Gläsern hingestellt, wo gerade Platz war. Dann kam eine Schwingtür, eine Treppe nach unten, eine weitere Schwingtür, und dann traten sie ein.
    Da wären wir, dachte Simon. Nett hier, hätte er denken können. Hätte es denken können wie jeder andere Jazzfan auch, der einen neuen Ort ausfindig macht, an dem seine Lieblingsmusik gespielt wird. Ja, das hätte er denken können. Aber Simon war nicht irgendein Jazzfan, er gehörte zu denen, die Jazz machen, ihn gemacht haben, ihn gemacht haben werden. Was also dachte oder vielmehr fühlte er, als er in die Atmosphäre dieses Clubs eintauchte, eine rote Atmosphäre, es war ein sanftes, aber recht düsteres Rot,
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