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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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hatte also einen Stil, ich beharre so sehr auf diesem Punkt, weil ich glaube, dass Simons Zweifel daran sehr zu seinem Verrat beigetragen haben. Einen Stil, der Spuren hinterlassen hatte, und zwar so tiefe, dass er junge Pianisten hatte beeinflussen können.
    Und noch etwas. Simon hat es nie zugeben wollen, aber seine Art zu spielen hat die Rolle des Klaviers im Jazz gewaltig verändert. Das war’s schon, was ich sagen wollte. Dann hat er es verraten. Und wurde vergessen. Und das umso schneller, als er gestört hatte. Mich nicht. Niemand wusste, was aus ihm geworden war. Ich schon. Wir sind Freunde geblieben. Und deshalb erzähle ich weiter.

4.
    Jazzliebhaber lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen, die ruhigen und die zappeligen. Der Ingenieur schnippte mit den Fingern. Er wippte mit dem Fuß. Er nickte heftig mit dem Kopf. Was Simon hasste. Er war kurz davor, ihn anzubrüllen. Doch er hatte Bedenken. Der Ingenieur hatte sich sämtliche Beine ausgerissen, um ihm einen Gefallen zu tun. Er hatte das Abendessen bezahlt, den Wein und gerade eben den Wodka, er zappelte herum, weil ihm die Musik gefiel, und auch weil er daran teilhaben wollte, immer noch aus dem Drang heraus, ihm seine Dankbarkeit zu bezeugen. Simon verzichtete darauf, ihm die Laune zu verderben.
    Die drei jungen Leute spielten gut. Es lief anstandslos. Man weiß nie genau, warum es gut läuft, aber wenn es gut läuft, merkt man es. Simon wusste, warum. Die drei da vorn sind sehr gut, dachte er, der Jazz braucht mich nicht mehr. Kaum hatte er es gedacht, wäre er am liebsten gegangen.
    Es war 22.20 Uhr. Aber der Gedanke wegzugehen, ohne den Flügel berührt zu haben, machte ihn krank. Er wollte spielen. Und fühlte sich zugleich nicht in der Lage, seinen Nachahmer nachzuahmen, jetzt und auf der Stelle wieder das Niveau dieses jungen brillanten Jazzers zu erreichen. Ich bin zu alt, dachte er.
    Überholt, das war er. Sein Sohn hatte ihn schon in vielen Bereichen überholt. Das hatte zwar nichts miteinander zu tun, aber dennoch. Überholt von einem jungen Mann, der sich seine ganze Spielweise angeeignet hatte und nun besser spielte als er. Besser, besser, was heißt das schon, besser spielen?, dachte er. Nein, das ist es nicht.
    Simon brannte darauf, dieses Piano zu berühren, um hörbar zu machen, worin das Unnachahmliche eines Stils liegt. Anders gesagt, und dann bin ich auch schon fertig mit Simon und der Frage des Stils, er wollte glauben, dass er nach zehn Jahren völligen Verstummens noch spielen könne, wie niemand je spielen wird.
    Der Wodka zirkulierte in seinem Gehirn. Der Wodka setzte sein Gehirn in Gang. Es funktionierte, wie es schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr funktioniert hatte. Nicht besser oder schlechter, nur anders. Freier vielleicht. Auch sein Herz schlug anders.
    Er seufzte, erschauerte und fing dann an zu zittern. Sein Entschluss stand fest. Er wusste, dass er zum Piano gehen, es berühren, es in Besitz nehmen würde. Es war 22.30 Uhr.
    Wenn sie doch auf die gute Idee kämen, die Pause ein wenig vorzuverlegen, dachte er, ich möchte es ja nur berühren, ich fasse es an und dann gehe ich. Er zitterte. Der Ingenieur hörte zu, immer noch zappelnd, es war wirklich ermüdend. Sind Sie nicht müde?, fragte Simon. Es geht, sagte der Ingenieur, und Sie? Es geht, sagte Simon. Das hat Swing, oder?, sagte der Ingenieur. Ja, sagte Simon, das hat Swing, aber könnten Sie nicht vielleicht? Nein, nichts.
    Was ihn so anstrengte, war das Warten. Dabei dauerte es nicht lange. Nur zehn Minuten. Und doch war es anstrengend. Wenn man schon zehn Jahre wartet. Ohne zu wissen, dass man wartet. Das macht einen noch mehr fertig.
    Zehn Jahre und zehn Minuten. Er würde zehn Jahre und zehn Minuten gewartet haben. Um jetzt den Mut zu verlieren? Vielleicht. Gehen wir, dachte er, das ist ja albern. Was hätte ich davon? Und dann griff, nennen wir es ruhig so, der Zufall ein.
    Das Trio machte ein wenig früher Pause. Es ergab sich einfach so. Sie hatten drei oder vier Themen gespielt, die alle zu Simons früherem Repertoire gehörten.
    Sie lieferten als Zeichen fürs Set-Ende noch sehr rasch die letzten Takte von On Green Dolphin Street ab, dann standen sie auf, fingen wieder an zu flachsen und schlenderten unter dem Applaus Richtung Bar. Vielleicht sollten wir jetzt gehen?, schlug der Ingenieur vor. Es war 22.40 Uhr.
    Simon stand auf. Der Ingenieur auch. Der Ingenieur ging voraus. Wir müssen uns beeilen, sagte er. Am Ausgang angekommen, öffnete
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