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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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können es wirklich gut. Ein überaus verschleppter Swing voller vorgezogener und nachschlagender Noten, endlos zurück- und hingehaltener Synkopen, das ist ihre Spezialität. Simon hörte zu und spürte, wie sein Körper in Bewegung geriet. Er trank einen Schluck Wein.
    Seit seinem Verrat aus gesundheitlichen Gründen hatte er nichts mehr angerührt, keinen Tropfen Alkohol. Mit Suzanne mied er die Orte, an denen es Musik gab. Die Orte, an denen getrunken wurde. Oft sind es dieselben Orte. Simon spürte eine leichte, kaum wahrnehmbare Wellenbewegung seines Rückens. Er trank einen Schluck Wein.
    Der Ingenieur seufzte: Ich dachte schon, wir würden es nie schaffen, sagte er. Und seufzte noch einmal: Ihnen verdanke ich, dass ich ein schönes Wochenende vor mir habe.
    Er streckte sich. Dann kann ich – er zählte alles auf, was er würde tun können: sich um seine Frau kümmern, um seine Tochter, um seinen Garten, der im Frühjahr viel Pflege brauche. Und meine Briefmarken sortieren, sagte er.
    Aha, Sie sind also Philatelist, sagte Simon. Er dachte an Suzanne. Sie ärgert sich bestimmt darüber, dass mir etwas dazwischengekommen ist. Das auch wieder nicht, sagte der Ingenieur, aber ich interessiere mich für Briefmarken, das ja, schon von früher Kindheit an; meine Mutter hat mich darauf gebracht, sie hob sie immer für mich auf, sie bekam viel Post aus aller Herren Länder.
    Simon war versucht, ihm den Gefallen zu tun und zu fragen, was seine Mutter denn für einen Beruf gehabt habe, wieso sie so viel Post aus der ganzen Welt bekommen habe. Er ließ es sein. War dann im Gegenzug versucht, ihm zu erzählen, er habe es auf seinen Reisen nie versäumt, Suzanne eine Karte oder einen anderen Gruß zu schicken, weil er wusste, dass sie dem Kleinen die Briefmarken schenkte. Er ließ es sein. Das hätte ihn an die Zeit erinnert, als für ihn noch alles in Ordnung war. Er ließ es sein. Er hatte keine Lust, sein Leben zu erzählen.
    Vor lauter Dankbarkeit erzählte ihm der Ingenieur das seine. Erzählte es Simon, der es ihm gerettet hatte. Ich schulde Ihnen mein Leben. Es gehört Ihnen. Sie haben es sich verdient, es kennen zu lernen.
    Während er zuhörte, dachte Simon: Warum sind wir immer so verschieden voneinander? Wie kommt es, dass ich mich immer langweile? Er ist natürlich viel jünger, aber trotzdem. Und Sie?, fragte der Ingenieur. Haben Sie eine Liebhaberei, ein violon d’Ingres!
    Nein, sagte Simon, kein violon. Gar nichts?, fragte der Ingenieur. Was machen Sie dann in Ihrer Freizeit? Nichts, sagte Simon, ich schlafe, ich lese, ich höre Musik. Was für Musik?, fragte der andere. Kommt darauf an, sagte Simon. Er fragte sich, ob das Abendessen wohl noch lange dauern würde. Sie waren fast fertig.
    Ja, natürlich, sagte der Ingenieur, aber was hören Sie im Allgemeinen am liebsten? Dieser junge Mann ist sehr nett, aber ich finde ihn entschieden langweilig, dachte Simon. Kommt der Kaffee noch? Ja, gleich. Kleinen Augenblick.
    Er konnte einfach nicht still sein. Der Hintergrundmusik lauschen. Oder sich ganz einfach an der Farbe des Himmels freuen, gerade war er nachtblau, fast schwarz, aber der Ingenieur hakte noch einmal nach:
    Was für Musik? Simon hätte lieber nicht geantwortet. Andererseits war der Junge nett. Man konnte ihm nichts vorwerfen. Simon zögerte einen Augenblick, und dann, mit unvermeidlicher Grimasse, der eines schwarzen Clowns, antwortete er: Jazz.
    Er log. Er hörte ihn nicht mehr. Er hörte nur noch die andere, die schöne, die große, die klassische, die akademische Musik. Seit seinem Verrat hörte er sie. Der Swing fehlte ihm, aber mangels Swing stopfte er sich mit Schönheit voll. Hätte er bloß die Wahrheit gesagt.
    Der Ingenieur sah auf die Uhr. Der Ingenieur hatte immer noch das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Immer noch war er darauf aus, sich zu bedanken. Seine Dankbarkeit bedurfte noch einer weiteren Geste, bevor sie sich erschöpft hätte.
    Ich kenne da einen Club in der Stadt, der ist gar nicht so schlecht. So?, fragte Simon. Ja, sagte der andere mit so etwas wie einem verschwörerischen Funkeln in den Augen: Was halten Sie von folgendem Vorschlag: Wir trinken da noch einen, und dann setz ich Sie am Bahnhof ab. Nun?
    Das wäre zu überlegen, dachte Simon und sah seinerseits auf die Uhr. Stimmt das, es ist 21.15 Uhr? Ja, sagte der Ingenieur, so in etwa. Ist es weit bis zu Ihrem Club? Eine Viertelstunde, sagte der Ingenieur.
    Simon überschlug die Zeit: Bis wir da sind, dachte er, ist
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