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Ein Abend im Club

Ein Abend im Club

Titel: Ein Abend im Club
Autoren: Christian Gailly
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Wieso? Nur so, sagte seine Frau. Sie seufzte. Und?, fragte sie. Mag er doch keinen Jazz? Im Gegenteil, sagte der Ingenieur. Und wie! Aber weißt du, was er gemacht hat? Er ging wieder ins Badezimmer.
    Die Frau des Ingenieurs wollte gar nicht wissen, was Simon gemacht hatte, das verstehe ich. Sie wollte endlich ihr Buch weiterlesen, auch das verstehe ich, eine Geschichte über einen Seefahrer, der nie zu Hause war. Er kam aus dem Badezimmer zurück. Er knöpfte seine Pyjamajacke zu. Ein seltsamer Typ, sagte er, weißt du, was er gemacht hat? Nein, sagte seine Frau, woher soll ich das wissen? Sie schlug ihr Buch wieder auf. Sie war fast am Ende. Sie wollte wissen, ob der Seefahrer zurückkehren würde.
    Er hat seinen Zug verpasst, sagte der Ingenieur. Sie seufzte und klappte das Buch wieder zu. Versteh ich nicht, sagte sie. Dabei ist es ganz einfach, sagte der Ingenieur. Sag doch gleich, dass ich blöd bin, sagte seine Frau. Das meine ich doch nicht, sagte der Ingenieur, du bist nicht blöd, du bist unkonzentriert. Er streckte sich neben ihr aus und gab ihr einen Kuss. Den kleinen Kuss, den er ihr jeden Abend gab. Eine Gewohnheit. Erklär’s mir, sagte sie.
    Sein Zug, sagte er, sollte um 22.58 Uhr fahren. Als die Musiker Pause machten, war es 22.40 Uhr. Wir hatten also noch achtzehn Minuten. Das wäre noch gegangen, der Bahnhof ist ja gleich nebenan, allerdings hab ich ganze fünf Minuten gebraucht, um den Wagen auszuparken. Wir sind also beide aufgestanden, aber er, halt dich fest, folgt mir nicht zum Ausgang, sondern dreht sich um, geht zur Bühne und setzt sich ans Klavier.
    Ist er Pianist? Mir doch egal, sagte der Ingenieur, ich will dir bloß sagen, dass er sich ans Klavier gesetzt hat, statt in den Zug zu steigen. Seine Frau: Na und?
    Simon fing an zu spielen. Nicht gleich. Er hatte zehn Jahre und zehn Minuten gewartet. Er musste noch einige Minuten länger warten. Zwei oder drei vielleicht. Bis er das Zittern seiner Hände bezwungen hatte.
    Man stelle sich diese Hände vor, die zitternd über den Tasten schweben, und Simon, der sie etwa alle fünfzehn Sekunden hinter seinem Rücken versteckt und sie dann wieder vorzeigt, sie dem Klavier darbietet, sie ihm anträgt, als wollte er sagen: Ich habe dich verlassen, doch nun bin ich zurückgekommen.
    Stelle sich also diesen allseits Unbekannten vor, diesen von sich selbst vergessenen Pianisten, einen Mann allein, der sich ans Klavier setzt und nicht spielt. Er zittert. Er sieht aus wie ein Verrückter oder wie ein Betrunkener, der stumm einen Pianisten vor dem großen Einsatz mimt. Und nicht zu vergessen, all das vor den Augen der Clubgäste. Leuten, die sich inzwischen fragten, was da eigentlich vor sich ging, die dachten: Was ist denn das für ein Verrückter, ist er betrunken?
    Nachdem er sein Zittern mehr oder weniger unter Kontrolle hatte, begann Simon mit zwei oder drei Tönen, sehr engen Tönen, enger als ihm lieb war, sie waren ihm gewissermaßen herausgerutscht.
    Man bedenke: Lampenfieber, Angst und Zittern, sie verfeinern, verstören, schärfen den Swing, sie spitzen ihn zu, wühlen ihn auf, erregen und beschleunigen ihn.
    Simon schwebte das hübsche Thema vor, das sein junger Kollege gerade zu Beginn des Sets gespielt hatte, Letter to Evan. Dieselbe Tonart. Mittleres Tempo.
    Die gesamte Klaviatur konnte er nicht nutzen, aus Angst, sich zu verirren. Er schlug nur einige Tasten an, schwarze, weiße, in der Mitte. Blieb dort, wie geborgen, die Hände geradezu übereinander gelegt. Er versuchte es. Fing an. Alle hörten zu.
    Er führte das Thema ein, ließ es von sehr weit herkommen, in kleinen melodischen Anschlägen, die er nach und nach harmonisierte, indem er den Akkord Note für Note wieder erstehen ließ, in Pausen, die der von ihm angedeuteten Melodie entsprachen, und auch der Rhythmus begann sich abzuzeichnen. Sehr bald schon packte ihn die Lust zu swingen. Alle hörten zu.

6.
    Hörst du auch, was ich höre? Scott, der junge Bassist, hat das gefragt. Und zwar Bill, den jungen Pianisten. Paul, der junge Schlagzeuger, steht mit dem Rücken zu ihnen. Er unterhält sich mit einem Mädchen. Der am wenigsten Verführerische von den dreien. Er gefällt den Mädchen. Was schließen wir daraus?
    Alle drei sind Amerikaner. Die Inhaberin hatte sie eingeladen. Eine gewisse Debbie Parker. Auch sie Amerikanerin. Die sich in Frankreich niedergelassen hatte. Als Kulturflüchtling. Auch sie wurde meine Freundin. Ich werde sie ganz einfach Debbie nennen.
    Hörst du
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