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Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)

Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)

Titel: Eichmann-Syndikat: Tom Sydows fünfter Fall (German Edition)
Autoren: Uwe Klausner
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seinen Häschern ins Netz gegangen war, zum abertausendsten
Mal verflucht hatte. Warum nur war er so sorglos gewesen, so fahrlässig und dilettantisch,
wie man es von ihm, dem peniblen Organisator, niemals erwartet hätte? Warum hatte
er sich von diesen Judenbastarden, die keinen Schuss Pulver wert waren, düpieren
lassen? Und wieso hatte er darauf verzichtet, eine Waffe oder, besser noch, eine
Zyankalikapsel bei sich zu tragen? Ein Biss, und es wäre ausgestanden gewesen. Für
immer.
    So aber
hieß es warten. Die Stunden waren zu Tagen, die Tage zu nicht enden wollenden Wochen
und Monaten geworden. Wecken, Frühstück, Verhöre, Hofgang, Schreibarbeit, Zubettgehen.
Immer der gleiche, quälende, das Nervenkostüm strapazierende Trott. Eichmanns Miene
verfinsterte sich. Ein Trost freilich würde ihm bleiben. Auch dann, wenn sie ihn
in ein paar Minuten aufknüpfen würden. Bevor sie ihn, Eichmann, geschnappt hatten,
war es ihm gelungen, sechs Millionen von diesen Bastarden ins Jenseits zu befördern.
Eine Bilanz, auf die er stolz sein konnte.
    Wenn, ja
wenn nur diese Hirngespinste nicht gewesen wären. Keine Albträume, die kannte er
nur vom Hörensagen. Begonnen hatte es vor drei Tagen, wie aus heiterem Himmel. Mitten
in der Nacht war er plötzlich in die Höhe geschreckt, nicht, weil ihm etwas auf
der Seele gelastet oder weil er Furcht oder gar Panik verspürt hätte. Angst vor
dem Sterben – doch nicht er! Kurzum, wie er so auf seiner Pritsche saß, waren diese
Gestalten aufgetaucht, verhärmt, ausgezehrt und mit starrem, ins Leere gerichtetem
Blick. Männer, Frauen, Kinder, Greise. Wie lange die an den Gitterstäben entlang
und wieder auf den Korridor hinausführende Prozession gedauert hatte, wusste er
nicht. Er wusste nur, dass er sie kannte, persönlich, aus eigenem Erleben. Er kannte
sie aus dem Palais ›Rothschild‹ in Wien, er kannte sie aus der Schillstraße im Prager
Stadtteil St ř ešovice und nicht zuletzt aus der Kurfürstenstraße in Berlin. Er kannte
sie persönlich, wusste genau, wie er mit ihnen umgesprungen war. Und er wusste,
welches Schicksal ihnen bevorgestanden, was aus ihnen geworden, wie mit ihren Überresten
verfahren worden war. Kein Zweifel, er war der Herr über Tod und Leben gewesen,
das Zünglein an der Waage, der personifizierte Schrecken, der Mann, vor dem sie
alle Reißaus genommen hatten.
    Eichmann
reckte das glatt rasierte Kinn. Das bloße Gerücht, er werde ein KZ inspizieren,
hatte genügt, um sämtliche Insassen, das Wachpersonal eingeschlossen, in Angst und
Schrecken zu versetzen. Das war in Auschwitz nicht anders gewesen als in Treblinka,
in Majdanek kaum anders als in Theresienstadt. Dort, im Vorzeigelager, war die Furcht
vor ihm am größten gewesen, dort hatte es ihn immer wieder hingezogen, insgesamt
vier Mal, sogar kurz vor der Kapitulation. Dann aber war er untergetaucht, volle
fünf Jahre lang, bis zu seiner Flucht nach Argentinien. Anders als erhofft war diese
jedoch nicht geheim geblieben, wobei es ihm nach wie vor schleierhaft war, wie ihm
seine Widersacher auf die Spur gekommen waren.
    Zufall oder
nicht, der Galgen war ihm sicher. Ein, zwei Minuten, und der Henker würde ihm seine
Aufwartung machen. Und er, Adolf Eichmann, würde alles tun, um sich die Furcht vor
dem Wiedersehen mit seinen Opfern nicht anmerken zu lassen.
     
    *
     
    Er wollte Schächter werden, kein
Schlächter, und er verwünschte den Tag, an dem er, Schalom Nagar, zum Bewacher von
Eichmann auserkoren worden war. Ein halbes Jahr war er viermal pro Tag in dessen
Zelle gesessen, drei endlos währende Stunden lang. Wer der Mann war, den er keine
Sekunde aus den Augen lassen durfte, war ihm lange nicht so recht klar gewesen,
bis zu dem Tag, an dem er zum ersten Mal seinen Prozess verfolgt hatte. Von da an
hatte er ihn genauestens studiert, hatte er jede seiner Bewegungen verfolgt. Er
hatte ihm zugesehen, wenn er seine Memoiren schrieb, wenn er einschlief, wenn er
las oder auf seinem Bett lag und an die Decke starrte. Und natürlich hatte er auch
mit ihm gesprochen. Nur das Nötigste, versteht sich, nur dann, wenn Eichmann ihn
um etwas bat. An sich war dies recht selten der Fall gewesen, und so hatte Nagar,
1949 nach Israel geflüchteter Sohn eines Jemeniten, die Zeit damit verbracht, Eichmanns
Gesichtszüge zu studieren. Dieser war seinem Blick zumeist ausgewichen, ob zufällig
oder absichtlich, konnte er nicht sagen. Sicher war indes, dass er nie, aber auch
wirklich nie, eine Gefühlsregung im
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