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E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve
Autoren: Marlies Michaelis
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virtuellen Ritt durch einen ebenfalls virtuellen Wald. Bei Multiplayer-Spielen kommt noch das Gemeinschaftsgefühl hinzu: Wer in einer Truppe als Schwertkämpfer in der ersten Reihe steht, wird alles daran setzen, heranstürmende Monster von den Zauberern und Bogenschützen im Hintergrund fernzuhalten. Dass die Räume nur digital sind, weiß der Spieler natürlich. Sein innerer Raum, der Leib, ist jedoch genauso mit Empfindungen gefüllt wie in einer realen Situation in der Außenwelt. Der digitale Ort ist für die Nutzer des Webs ein Erlebnisraum. Die Tatsache, dass wir von einem elektronischen Medium unmittelbar angesprochen werden, hatte McLuhan schon dem Fernsehen attestiert. Doch während dieses Medium nur durch das Ein- und Ausschalten sowie das Wechseln der Sender vom Zuschauer beeinflusst werden kann, handelt der Nutzer des digitalen Raumes komplexer: Er sucht und verbreitet Informationen, spielt und chattet. Durch sein Handeln beeinflusst er den digitalen Raum. Somit ist er Konsument und Produzent in einer Person.
    In diesem riesigen digitalen Raum, der den Menschen so viel bedeutet und in dem alle Medien in digitaler Form präsent sein können, darf das Buch nicht fehlen. Doch auch für die Nutzer des digitalen Raumes bleibt das Buch ein diskreter Gast. Es ist weniger aufdringlich als die einnehmenden Bilderwelten von Online-Rollenspielen. Natürlich kann der Text – wie im gedruckten Buch auch – die Leserinnen und Leser berühren, ja mitreißen. Gleichwohl bleibt das Buch unauffälliger als, sagen wir einmal, ein Video. Während dieses unsere Sinne sogleich mit bewegten Bildern und Tönen anspricht, verharren die Buchstaben und Sätze auf dem Display, ohne zu lärmen und um unsere Aufmerksamkeit zu wetteifern. Besonders zurückhaltend wirkt der Text dabei auf E-Book-Readern, weil ihm dort auch noch jede Farbigkeit – und sei es nur die des Covers – genommen ist. Vielleicht ist es gerade dieser diskrete Charme des Buches, der uns misstrauisch gegenüber Mischformen aus Text und Video oder Audio macht.
    Was geschieht nun mit dem Buch innerhalb des digitalen Raumes? Zunächst einmal wird das gedruckte Buch zunehmend zur Papierkonserve. Es ist weniger mobil als das digitale Buch, konserviert zwar den Inhalt, lässt sich jedoch nicht aktualisieren. Und auch die Verknüpfung mit weiteren Inhalten oder Kommentaren anderer Nutzer ist nicht möglich. Das Buch wird also vom angestammten und hervorragenden Träger umfassender linearer Texte zum nur noch begrenzt verwendbaren Medium. Denn das E-Book kann ja – wie wir gesehen haben – viel mehr. Es ist Teil des Netzes, des digitalen Raums.
    „Netzdialoge sind das Reservoir, in das letzten Endes alle Informationen, wenn auch manchmal auf komplexen Umwegen, münden“, schrieb Vilém Flusser in „Kommunikologie“, einem seiner Hauptwerke. „Allerdings kommen die Informationen im dialogischen Netz bereits etwas abgeschliffen und vergröbert an (vulgarisiert, popularisiert usw.) und werden im Hin und Her des Dialogs immer weiter vereinfacht und verformt“, fuhr der Medienphilosoph fort. Wenn aber die Ausgangsmedien selber Bestandteil des Netzes, des digitalen Raumes sind, gibt es neben den Dialogen und Vereinfachungen auch immer das Original – den Text, den Film, den Song. Bliebe das Buch außerhalb des digitalen Raums, dann gäbe es zwar Meinungen, Vereinfachungen und Diskussionen über Bücher im Netz, aber nicht diese selbst. Wenn mehr und mehr Menschen den digitalen Raum betreten, die Bücher aber außen vor bleiben, dann bleibt zunehmend auch der Inhalt der Bücher außen vor. Dann gibt es zwar digitale Texte (auch Videos und Audiodateien) von Menschen, die sich über Bücher austauschen, doch der Inhalt selbst kommt im neuen Medium, in der neuen Gutenberg-Maschine, nicht vor.
    Das gedruckte Buch ist eine Kutsche, die ihre Insassen – die Inhalte – langsam von A nach B befördert. Dabei wird sie vom Auto überholt, in dem aber bisher zumeist andere Inhalte sitzen. Diese kommen schneller ans Ziel und werfen nur ab und an einen flüchtigen, mitleidigen Seitenblick auf die Insassen der behäbig dahinrollenden Kutsche. Wer wird noch gedruckte Bücher lesen, wenn alle Informationen über diese Bücher in kurzen Zusammenfassungen und teils auch lexikalisch komprimiert viel schneller und von jedem Ort aus zugänglich sind? Wenn dann zur Lektüre eines Buches noch ein zusätzlicher Weg hinzukommt, um überhaupt an das Buch zu gelangen, dann hat das in
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