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E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve
Autoren: Marlies Michaelis
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welche von beiden wir wann unsere Aufmerksamkeit richten wollen, welcher wir den Vorzug geben wollen. Unseren Tastsinn nutzen wir, um zwischen den beiden Welten zu wechseln – über Tastatur, Maus und berührbare Oberflächen. Der digitale Raum beginnt vor unseren Augen und lässt sich durch einfache Handbewegungen verändern. An die Stelle unserer Bewegungen im realen Raum, für die wir Beine und Arme benötigen, tritt der Fenster- und Seitenwechsel im visuellen und auditiven Raum. Wir erkunden die Welt nicht auf einem Gang durch Straßen und Felder, sondern durch Ausflüge in den digitalen Bereich.
    Diese Möglichkeit des Menschen, über seine Sinne der Gegenwart zu entfliehen und andere Welten aufzusuchen, nutzte der geschriebene Text fast von seiner Entstehung an. Wir finden die Repräsentation anderer Welten sogar schon an den Wänden der Höhle von Chauvet. Die Erweiterung der Wahrnehmung über eine direkte Umgebung hinaus ist ein zentrales Kennzeichen des geschriebenen Textes. Durch die geschriebenen oder gedruckten Buchstaben gelangten die Menschen in ein Reich der Phantasie oder der Logik, der Geschichten oder der sachlichen Argumentation. Über Jahrhunderte waren Bücher und anderes Gedrucktes die maßgeblichen Medien, die diese neuen Horizonte und Fluchtmöglichkeiten boten. Im 19. Jahrhundert kamen dann die ersten elektronischen Medien hinzu – der Telegraph und der Daguerretyp, mit dem erste Fotoaufnahmen gelangen. Im 20. Jahrhundert ging es dann Schlag auf Schlag: Das Radio wurde erfunden, dann der Film und kurz danach das Fernsehen. Die Medien eroberten Küchen und Wohnzimmer. Von den Bildschirmen kommen wir nun nicht mehr los, denn auch das World Wide Web kommt darüber zu uns. Doch während Radio und Fernsehen als Massenmedien nur in eine Richtung ausstrahlen – vom Sender zum Empfänger, der dann selber schauen kann, was er mit dem Programm anfängt –, ging das Internet einen Schritt weiter: Aus der Einbahnstraße der Massenmedien wurde die Datenautobahn des Webs, die in zwei Richtungen funktioniert und im Prinzip jeden als Sender und Empfänger zulässt.
    Das World Wide Web wird oft „Netz“ genannt. Ich bevorzuge die Bezeichnung „digitaler Raum“. In einem Raum können mehrere Teilnehmer gleichzeitig anwesend sein. Ein Beispiel dafür ist der Chatroom. Die Bezeichnung „Netz“ betont End- und Knotenpunkte, während „digitaler Raum“ eher die Verwendung des neuen Mediums ins Zentrum stellt. Denn durch die Kommunikation im Web haben sich neue digitale Orte gebildet. So sind die sozialen Netzwerke virtuelle Treffpunkte, in denen einzelne Akteure eine digitale Heimat haben. Die sozialen Netzwerke sind zum eigentlichen zweiten Leben geworden, während die 3D-Infrastruktur mit diesem Namen, Second Life, die versuchte, die reale Welt mit ihren Institutionen abzubilden, ein nicht ganz so attraktiver Aufenthaltsort ist. Den 750.000 aktiven Teilnehmern von Second Life stehen allein 900 Millionen Nutzer von Facebook gegenüber. Auch Handelsplattformen, auf denen Bücher, Technik oder Urlaubsreisen verkauft werden, sind mittlerweile nicht nur Websites, die Informationen enthalten, sondern soziale Orte, an denen die Nutzer durch Bewertungen und Kommentare ihre Spuren hinterlassen. Denn jegliche Art der persönlichen Äußerung schafft auf Websites über die reine Information hinaus etwas anderes, Neues: eine Anwesenheit in der Abwesenheit, eine permanente Spur. Der digitale Raum zeichnet sich nicht durch seine dreidimensionale Gegebenheit aus, auch wenn mittlerweile 3D-Anwendungen möglich sind, sondern durch die Spur der Nutzer. Manche kehren täglich wieder, andere Spuren verblassen, treten in den Hintergrund, werden von neuen Spuren, neuen Kommentaren überlagert.
    Es gibt aber noch einen anderen Grund, weswegen die Bezeichnung „digitaler Raum“ plausibler erscheint. Dieser Grund ist anthropologischer Natur. Menschen sind leibliche Wesen, deren Wahrnehmung ihrer selbst und ihrer Umgebung auch räumlich ist. Nun beeinflusst der digitale Raum die direkte Umgebung nicht – außer dadurch, dass ein mobiler oder statischer Computer in unmittelbarer Nähe den Zugang zu ihm ermöglicht. Wir sind über unsere Augen, Ohren und – bei der Eingabe – den Tastsinn auf den digitalen Raum bezogen. Die digitalen Orte, welche die Menschen betreten, lösen in ihnen ähnliche Regungen und Gefühle aus wie die reale Welt. Spieler ärgern sich, wenn ihr Charakter stirbt. Sie fürchten sich bei einem
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