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E-Book statt Papierkonserve

E-Book statt Papierkonserve

Titel: E-Book statt Papierkonserve
Autoren: Marlies Michaelis
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Buchform vermittelte Wissen vollends keine Chance mehr in der digitalisierten Welt.
    Doch das wäre nicht nur schade, es wäre auch höchst fatal. Denn erinnern wir uns: In langen linearen Texten, die zunächst auf Tontafeln und Papyrusrollen, später dann auf Pergament und schließlich auf Papier vorlagen, finden wir komprimierte Bausteine der menschlichen Kultur, die es wert sind, von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. So wie uns das Gilgamesch-Epos die erste längere Geschichte präsentierte und in den Schriften von Platon und Aristoteles erstmals umfassende abstrakte Betrachtungen niedergelegt wurden, so sind von Jahrhundert zu Jahrhundert neue Schriften und Verse hinzugekommen. Manches geriet auch in Vergessenheit. Und mit dem Vergessen, das die Schrift ermöglicht hat, bleiben die linearen Texte auch immer auf diejenigen angewiesen, die nicht nur lesen können, sondern auch bereit sind, sich mit dem Geschriebenen auseinanderzusetzen. Ein Text, der nicht gelesen wird, bleibt stumm und gerät in Vergessenheit. Ein Text, der gelesen und gelehrt wird, lebt innerhalb der menschlichen Gesellschaft weiter.
    Dabei stellt der geschriebene Text in Buchform an uns einen Anspruch, den so kein anderes Medium erhebt: Ein Text wird erst dann verstanden, wenn wir ihn nicht einfach nur mit den Augen überfliegen, sondern den Sinn des Geschriebenen erfassen und mit unseren eigenen Erfahrungen abgleichen. Oder wenn wir das Geschriebene mit unseren eigenen Bildern füllen. Ein Buch will nicht bloß gelesen, es will verstanden werden. Hinzu kommt, dass innerhalb des linearen Textes, wie ihn das Buch anbietet, über eine stattliche Anzahl von Seiten – oder zumindest von Zeilen – ein Gedankengang oder eine Geschichte aufgebaut wird. Und nur wer über den gesamten Verlauf des Textes aktiv liest, wird die Geschichte oder den Gedankengang begreifen. Der lineare Text ist ein Speicherraum gegen das Vergessen, ein Medium zur aktiven Aneignung des sich über einen längeren Zeitraum aufbauenden Ganzen.
    Wie unterscheidet sich dies vom Fernsehen – abgesehen davon, dass das Fernsehen natürlich mit Bild und Ton operiert? Während Leserinnen und Leser bei der Lektüre des Buches ihrem eigenen Rhythmus, ihrer eigenen Geschwindigkeit folgen, ist diese bei Filmen – und auch bei Radiosendungen – vorgegeben. Bei der Lektüre eines Buches kann ich aufschauen und einen Moment lang überlegen, was ich von dem Gelesenen halte. Bei einer laufenden Fernsehsendung ist das nicht möglich. Und selbst bei Spielfilmen auf DVD oder Blu-Ray, die ich doch per Knopfdruck anhalten könnte, werde ich keine Unterbrechungen einlegen, um darüber nachzudenken, was ich soeben gesehen habe. Denn die Darstellungen sind zwar plastisch, aber bisher weniger komplex als im Medium Buch. In Büchern können Autoren verschiedene Fachsprachen verwenden, ganz eigene Symbolsysteme, die über Jahrhunderte, teilweise sogar über Jahrtausende entstanden sind. Wenn ich versuche, mir Heideggers „Sein und Zeit“ oder Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ als Fernsehfilm vorzustellen, dann gelingt mir das nicht so recht. Dagegen ist der Sprung von einem Medium zum anderen mit „Harry Potter“ und „Der Herr der Ringe“ erwiesenermaßen gut gelungen.
    Film und Fernsehen sind Medien für anschauliche Stoffe. Das Buch kann anschauliche Stoffe ebenfalls darstellen – es nimmt unsere Phantasie als Leinwand. Doch zusätzlich kann es abstrakte Gedankengänge abbilden. Das nutzen die Wissenschaftler aus, angefangen bei Platon und Aristoteles, die abstrakte Begriffe wie das Sein, die Erkenntnis, die Gerechtigkeit und den Staat untersuchten. Das Buch ist Schutz und Hort für unsere Phantasie und unser abstraktes Denken. Wenn wir also das Buch von dem neuen, universellen Medium, der Gutenberg-Maschine, ausnehmen würden, dann setzten wir ebendies aufs Spiel. Und dieser Einsatz ist definitiv zu hoch.

12  Analog versus digital II
    Im ersten Teil dieses Buches stand der Vergleich von analogem und digitalem Buch im Hinblick auf den einzelnen Nutzer. Im zweiten Teil habe ich die Entwicklung der „Zutaten“ des Buches – Schrift , Inhalt , Trägermaterial und Herstellung – in den verschiedenen historischen Phasen verfolgt. Hinzu kommt als wesentlicher Aspekt eines Textes natürlich noch die Autorschaft . Abschließend treten nun das gedruckte und das elektronische Buch erneut in einem kleinen Wettkampf gegeneinander an. Diesmal geht es jedoch nicht um
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