Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
geflattert?«
    Langsam drehte sich alles in Cecilies Kopf. Sie wußte nicht, ob sie das Ganze verstanden hatte, was der Engel sagte, aber das, was sie begriffen hatte, klang sehr überzeugend. Endlich habe ich das alte Rätsel gelöst, dachte sie. Wenn ich mich morgen bloß noch an alles erinnern kann .
    »So ist es auch mit den Kindern«, sagte Ariel. »Sie kommen zuallererst auf die Welt. Die Erwachsenen hinken immer hinterher. Je älter sie werden, desto schlimmer hinken sie.«
    Cecilie fand Ariels Worte so klug, daß sie sie gern in ihr chinesisches Notizbuch geschrieben hätte, um sie nicht zu vergessen. Aber sie traute sich nicht, solange der Engel zusah.
    »Adam und Eva waren doch aber erwachsen«, sagte sie.
    Ariel schüttelte den Kopf.
    »Sie wurden erwachsen. Das war der große Patzer. Als Gott Adam und Eva schuf, waren sie kleine neugierige Kinder, die auf die Bäume kletterten und durch den großen Garten rannten, den er gerade erschaffen hatte. Es bringt doch nichts, einen großen Garten zu haben, wenn es keine Kinder gibt, die darin spielen können.«
    »Und das ist wahr?«
    »Ich sage doch: Engel lügen nicht.«
    »Erzähl weiter, bitte!«
    »Dann hat die Schlange sie in Versuchung geführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen; danach fingen sie an zu wachsen. Je mehr sie aßen, desto mehr wuchsen sie. Und auf diese Weise wurden sie schrittweise aus dem Paradies der Kindheit vertrieben. Die kleinen Schlingel hatten einen solchen Hunger auf Wissen, daß sie sich schließlich aus dem Paradies hinausgefressen haben!«
    Cecilie riß die Augen auf, Ariel blickte nachsichtig auf sie herab.
    »Aber die Geschichte kennst du natürlich schon«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Es hieß zwar, daß Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, aber niemand hat mir gesagt, daß es sich um das Paradies der Kindheit handelte.«
    »Ein Stückweit hättest du das ja auch selbst erraten können. Aber ihr versteht immer nur Bruchstücke. Ihr seht alles durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort .«
    Cecilie lächelte schlau.
    »Ich kann mir jedenfalls gut vorstellen, wie der kleine Adam und die kleine Eva im großen Garten zwischen den Bäumen herumgehüpft sind.«
    »Hab ich’s nicht gesagt?«
    »Was denn?«
    »Du kommst mit Raten ganz schön weit. Hast du gewußt, daß die Menschen nur einen kleinen Prozentsatz ihres Gehirns nutzen?«
    Cecilie nickte, denn das hatte sie in der »Illustrierten Wissenschaft« gelesen.
    »Ich möchte gern mehr über Adam und Eva hören«, sagte sie bittend.
    Sie hatte sich jetzt im Bett etwas höher gezogen. Ariel baumelte noch immer mit den Beinen und erzählte:
    »Zuerst fingen sie an allen Ecken und Enden an zu wachsen. Dann wurden sie geschlechtsreif. Das war sicher ein Teil der Strafe, aber es war für Gott und die Menschen auch ein Trost.«
    »Wieso das denn?«
    »Jetzt konnten neue Menschen in die Welt gesetzt werden. Und so war es dann zu allen Zeiten. Gott hat auf diese Weise dafür gesorgt, daß immer wieder Kinder geboren werden, die die Welt neu entdecken können. Die Welt wird nämlich jedesmal neu erschaffen, wenn ein Kind geboren wird.«
    »Weil, wenn ein Kind zur Welt kommt, die Welt ganz neu ist für dieses Kind?«
    Er nickte.
    »Du kannst übrigens auch sagen, daß die Welt zum Kind kommt. Geboren zu werden bedeutet, daß wir die ganze Welt geschenkt bekommen - mit der Sonne tagsüber, dem Mond und den Sternen am blauen Himmelszelt nachts. Mit einem Meer, das die Strände überspült, mit so tiefen Wäldern, daß sie nicht einmal ihre eigenen Geheimnisse kennen, mit seltsamen Tieren, die durch die Landschaft ziehen. Die Welt wird nie alt und grau. Ihr werdet alt und grau. Aber solange Kinder in die Welt gesetzt werden, ist sie so funkelnagelneu wie am siebten Tag, als der Herr ruhte.«
    Cecilie lag mit halboffenem Mund da, und der Engel sprach weiter:
    »Nicht nur Adam und Eva sind schließlich erschaffen worden. Auch du wurdest ein wenig erschaffen. Plötzlich, eines Tages, kam die Reihe an dich, dir anzusehen, was der Herr erschaffen hatte. Du wurdest aus Gottes Ärmel geschüttelt und erwischtest dich selbst quicklebendig in der Luft. Und du sahst, daß alles außerordentlich gut war.«
    Cecilie mußte lachen. Sie fragte:
    »Wart ihr wirklich all die Zeit über hier?«
    Der Engel Ariel nickte feierlich.
    »Hier und dort, ja. Aber wir sind noch immer genauso neugierig auf alles, was mit der Schöpfung zu tun hat, wie vor einer halben Ewigkeit. Das ist auch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher