Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
Papa sammelte das Geschenkpapier ein und stopfte es in einen schwarzen Plastiksack.
    Dann verließ Großvater das Zimmer. Die Erwachsenen tranken Kaffee, Lasse Limonade. Cecilie bekam ihre Medizin.
    Als Großvater zurückkam, trug er einen langen, schweren Gegenstand, der in blaues Weihnachtspapier mit goldenen Sternen gewickelt war.
    Cecilie zog sich an der Sofalehne hoch.
    »Skier!«
    »Für die Skidisa. Von Oma und Opa«, las Großvater vor.
    »Skidisa?«
    »Die Skigöttin«, erklärte Großmutter. »Das bist du, weißt du.«
    Cecilie riß das Papier ab. Die Skier waren so rot, wie das Papier blau gewesen war.
    »Toll! Ich wollte, ich könnte sie gleich ausprobieren!«
    »Ja, laß uns hoffen, daß du bald wieder auf den Beinen bist.«
    Cecilie behielt die Skier bei sich auf dem Sofa, solange die restlichen Pakete verteilt wurden. Auch das letzte war so groß, daß es von draußen geholt werden mußte, und es war ebenfalls für Cecilie bestimmt. Sie konnte den Inhalt sofort erraten.
    »Ein Schlitten! Ihr spinnt doch .«
    Mama beugte sich über sie und kniff sie in die Wange.
    »Meinst du vielleicht, wir hätten es gewagt, dir mit einem anderen Geschenk zu kommen?«
    Cecilie zuckte mit den Schultern.
    »Immerhin habt ihr gewagt, mir keine Schlittschuhe zu schenken.«
    »Ja, darauf haben wir es ankommen lassen.«
    Jetzt stand der ausgedehnte Kaffeeklatsch auf dem Programm. Cecilie freute sich über den Anblick von Plätzchen, Marzipan, selbstgemachten Süßigkeiten und Nüssen. So mußte es sein. So war Weihnachten. Sie selbst aß nur ein Stück Kuchen. Danach bat sie um eine Scheibe Toast mit Honig.
    Großvater erzählte von Weihnachten in alten Zeiten. Seit über sechzig Jahren feierte er nun schon in diesem Zimmer das Fest. Einmal war auch er krank gewesen.
    Als sie um den Weihnachtsbaum tanzen wollten, fielen Cecilie bereits die Augen zu. Sie wollte in ihr Zimmer getragen werden.
    Lasse und Mama rannten hin und her, um die Geschenke nach oben zu schaffen. Cecilie wollte alle bei sich haben. Am Ende trug Papa sie nach oben, nachdem jeder dem andern noch einmal gesegnete Weihnachten gewünscht hatte.
    Cecilie schlief ein, während Weihnachtslieder und die Geräusche der Schritte um den Weihnachtsbaum nach oben schwebten. Großmutter spielte dazu Klavier.

S ie fuhr aus dem Schlaf. Es mußte schon spät sein, denn im ganzen Haus war es still. Cecilie öffnete die Augen und knipste die Lampe über dem Bett an.
    Sie hörte eine Stimme, die fragte:
    »Hast du gut geschlafen?«
    Wer war das? Auf dem Stuhl vor dem Bett saß niemand. Und auf dem Boden stand auch niemand.
    »Hast du gut geschlafen?« fragte die Stimme noch einmal.
    Cecilie setzte sich auf und blickte sich um. Dann fuhr sie zusammen: Auf der Fensterbank saß eine Gestalt. Es gab dort nur Platz für ein kleines Kind, aber Lasse war es nicht. Wer dann?
    »Fürchte dich nicht«, sagte die fremde Gestalt mit heller, klarer Stimme.
    Sie oder er trug einen weiten Kittel und hatte nackte Füße. Cecilie konnte wegen des scharfen Gegenlichts von der Weihnachtsbeleuchtung draußen im Baum nur mit Mühe ein Gesicht erkennen.
    Sie rieb sich die Augen, aber danach saß die weißgekleidete Gestalt immer noch da.
    War das ein Mädchen oder ein Junge? Cecilie war sich nicht sicher, denn die Gestalt hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Sie beschloß, daß es ein Junge sei, aber sie hätte genausogut das Gegenteil beschließen können.
    »Kannst du mir nicht verraten, ob du gut geschlafen hast?« fragte die geheimnisvolle Gestalt noch einmal.
    »Doch ... schon ... aber wer bist du?«
    »Ariel.«
    Cecilie mußte sich noch einmal die Augen reiben.
    »Ariel?«
    »Ja, das bin ich, Cecilie.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß trotzdem nicht, wer du bist.«
    »Aber wir wissen fast alles über euch. Das ist genau wie bei einem Spiegel.«
    »Wie bei einem Spiegel?«
    Er beugte sich vor, und es schien, als ob er jeden Moment von der Fensterbank auf den Schreibtisch purzeln würde.
    »Ihr seht nur euch selbst. Ihr könnt nicht sehen, was sich auf der anderen Seite befindet.«
    Cecilie fuhr zusammen. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte sie oft im Badezimmer vor dem Spiegel gestanden und sich vorgestellt, daß dahinter eine andere Welt läge. Manchmal hatte sie sich sogar vor den Bewohnern jener Welt gefürchtet, die vielleicht durch das Glas schauen und sie beim Waschen beobachten konnten. Oder noch schlimmer: Sie hatte sich gefragt, ob sie etwa durch den Spiegel springen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher