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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
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Tiefe zu ihr aufgestiegen waren, hatten ihr verraten, daß gebacken oder die Weihnachtsdekoration angebracht wurde. Ein paarmal hatte Cecilie sich vorgestellt, das Erdgeschoß wäre die Erde, und sie selbst befände sich im Himmel.
    Gestern abend hatten sie den Weihnachtsbaum hereingebracht, Papa hatte ihn geschmückt, als Lasse schon im Bett lag. Cecilie hatte ihn noch nicht gesehen. Sie hatte den Weihnachtsbaum noch nicht gesehen!
    Gut, daß sie einen redseligen kleinen Bruder hatte. Lasse kommentierte alles, was die anderen nur sahen oder dachten. Deshalb hatte er auch über sämtliche Weihnachtsvorbereitungen und die ganze Dekoration losgeplappert. Er war Cecilies heimlicher Reporter aus der Unterwelt gewesen.
    Auf ihrem Nachttisch stand eine Glocke. Sie klingelte damit, wenn sie aufs Klo mußte oder irgendwas brauchte. In der Regel war dann Lasse als erster bei ihr. Manchmal hatte Cecilie geklingelt, weil sie ihn bitten wollte, vom Backen und Schmücken zu erzählen.
    Papa hatte versprochen, Cecilie zur Bescherung ins Wohnzimmer hinunterzutragen. Sie wünschte sich neue Skier. Die alten waren ihr viel zu kurz. Mama hatte gemeint, sie sollten vielleicht besser warten, bis sie wieder gesund sei, doch da hatte Cecilie protestiert. Sie wollte zu Weihnachten Skier, und basta!
    »Aber vielleicht kannst du in diesem Winter gar nicht mehr Ski laufen, Cecilie!«
    Cecilie hatte eine Blumenvase auf den Boden gepfeffert.
    »Ohne Skier noch viel weniger!«
    Mama hatte Kehrblech und Handfeger geholt, ohne eine Miene zu verziehen. Das war fast das schlimmste gewesen. Als sie Blumen und Scherben zusammenfegte, hatte sie gesagt:
    »Ich dachte, du hättest lieber ein schönes Geschenk, das du auch im Bett brauchen kannst.«
    Cecilie hatte einen Druck hinter der Schläfe gespürt. »Auch im Bett brauchen kannst!« Sie hatte noch eine Untertasse und ein Glas voll Saft zu Boden gehen lassen. Mama war selbst da nicht böse geworden. Sie hatte nur gefegt und gekehrt, gefegt und gekehrt.
    Sicherheitshalber hatte Cecilie hinzugefügt, daß sie sich auch noch Schlittschuhe und einen Schlitten wünschte ...
    Draußen herrschte seit Anfang Dezember kaltes Winterwetter. Manchmal hatte Cecilie es geschafft, ganz allein aufzustehen und sich zum Fenster zu schleppen. Der Schnee lag wie eine weiche Decke über der gefrorenen Landschaft. Im Garten hatte Papa in der großen Kiefer Weihnachtslichter angebracht. Cecilie zu Ehren. Sonst hatten die Lichter immer in der kleinen Tanne vor dem Eingang gebrannt. Durch die Zweige der Kiefer konnte sie in der Ferne den Berg Ravnekollen erkennen.
    Nie hatte die Natur draußen so scharfe Umrisse gezeigt wie jetzt, an diesen letzten Tagen vor Weihnachten. Einmal hatte Cecilie gesehen, wie der Postbote trotz knapp zehn Grad unter Null und obwohl der Weg tief verschneit war, auf dem Fahrrad gekommen war. Zuerst hatte sie gelächelt. Sie hatte an die Fensterscheibe geklopft und ihm zugewinkt. Er hatte aufgeblickt und mit beiden Armen zurückgewinkt. Prompt war sein Rad in dem lockeren Schnee umgekippt. Als er hinter der Scheune verschwand, war sie ins Bett zurückgekrochen und hatte geweint. Ein radfahrender Postbote mitten im Schnee kam ihr vor wie der eigentliche Sinn des Lebens.
    Noch ein weiteres Mal waren ihr am Fenster Tränen in die Augen getreten. Sie wäre so gern hinaus in das Wintermärchen gesprungen. Vor der Scheunentür waren zwei Dompfaffe in einem ausgeklügelten Spiel hin- und hergetrippelt. Cecilie hatte lachen müssen. Sie wäre so gern selbst ein Dompfaff gewesen. Und dann waren ihre Augenwinkel feucht geworden. Am Ende hatte sie eine Träne auf die Fingerspitze genommen und einen Engel an die Fensterscheibe gemalt. Als ihr aufging, daß sie den Engel mit ihren Tränen gezeichnet hatte, mußte sie wieder lachen. Was war denn  eigentlich der Unterschied zwischen Engelstränen und Tränenengeln?
    Sie war offenbar eingenickt, denn sie fuhr aus dem Schlaf, als sie unten die Haustür hörte.
    Sie waren aus der Kirche zurück! Cecilie hörte, wie sie sich den Schnee von den Stiefeln trampelten. Und hörte sie jetzt nicht auch die Glocken?
    »Gesegnete Weihnachten, Mama!«
    »Gesegnete Weihnachten, mein Junge.«
    »Auch dir gesegnete Weihnachten, Tone.«
    Großvater räusperte sich:
    »Ja, hier riecht es nach Weihnachtsfest.«
    »Nimm mal Opa den Mantel ab, Lasse.«
    Cecilie sah sie vor sich: Großmutter lächelte und nahm alle in den Arm, Mama band sich die rote Schürze ab, während sie
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