Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
Autoren: Jostein Gaarder
Vom Netzwerk:
Kristalle und Halbedelsteine an. Er war etwas kleiner als Lasse.
    »Beeindruckende Sammlung«, sagte er mit dem Rücken zu ihr.
    Dann drehte er sich um.
    »Hast du dir schon mal überlegt, daß jeder Stein ein kleines Bruchstück der Erde ist?«
    »Oft. Ich sammle nur die schönsten Stücke ...«
    »Aber du hast dir vielleicht nicht überlegt, daß du ein Stück von der Erdkugel abgebrochen hast.«
    Sie fuhr zusammen.
    »Wieso das denn?«
    »Du springst leichtfüßig durch die Schöpfung. Ein Stein schafft das nicht.«
    Erst jetzt konnte Cecilie sein Gesicht deutlich sehen. Seine Haut war viel glatter und reiner als Menschenhaut, etwas blasser war sie auch. Cecilie hatte sich fast schon an den Anblick seines kahlen Kopfes gewöhnt. Jetzt sah sie, daß ihm auch Augenbrauen und Augenlider fehlten.
    Er kam auf sie zu und setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Bett. Seine Schritte waren so leicht, sie schienen den Boden überhaupt nicht zu berühren. Es war, als ob er einfach durchs Zimmer glitte. Seine Augen strahlten wie zwei blaugrüne Edelsteine, und wenn er sie anlächelte, so wie jetzt, glitzerten seine Zähne wie weißer Marmor.
    Cecilie hatte während der Unterhaltung mehrmals seinen kahlen Kopf gemustert. Jetzt fragte sie:
    »Macht es dir etwas aus, wenn ich dich nach deinen Haaren frage?«
    Er lachte.
    »Nein, frag nur. Vielleicht können wir danach über deinen Bart reden.«
    Sie starrte ihre Decke an.
    »Ich dachte, Engel hätten lange blonde Locken.«
    »Weil du alles in einem Spiegel siehst. Da läßt es sich kaum vermeiden, daß du nur dich selbst siehst.«
    Sie war mit der Antwort nicht ganz zufrieden.
    »Kannst du mir nicht einfach verraten, warum ihr keine Haare auf dem Kopf habt?«
    Er sagte:
    »Haut und Haare wachsen am Körper und fallen dauernd wieder aus. Sie gehören zu Fleisch und Blut und sollen vor allerlei Plunder wie Kälte und Hitze schützen. Haut und Haare sind verwandt mit dem Fell der Tiere. Sie haben nichts mit Engeln zu tun. Du könntest auch fragen, ob wir uns die Zähne putzen - oder ob wir uns jeden zweiten Samstag die Nägel schneiden.«
    »Und nichts davon tut ihr?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Es liegt nicht an solchen Dingen, daß du und ich trotzdem Ähnlichkeit miteinander haben.«
    »Woran dann?«
    Er blickte auf sie herab.
    »Engel und Menschen haben beide eine Seele, die Gott geschaffen hat. Aber ihr habt auch einen Körper, der seinen eigenen Weg geht. Ihr wachst und entwickelt euch wie Pflanzen und Tiere.«
    »Idiotisch«, seufzte Cecilie. »Ich denke ungern daran, daß ich ein Tier bin.«
    Ariel redete einfach weiter, als ob er sie nicht gehört hätte.
    »Alle Pflanzen und Tiere fangen ihr Leben als kleine Samenkörner oder Zellen an. Zuerst sind sie sich so ähnlich, daß man gar keinen Unterschied erkennen kann. Aber dann entfalten sich die kleinen Samenkörner langsam und werden alles von Johannisbeersträuchern und Pflaumenbäumen bis zu Menschen und Giraffen. Es dauert viele Tage, bis man einen Unterschied zwischen einem menschlichen und einem Schweineembryo sehen kann. Hast du das gewußt?«
    Sie nickte.
    »In den letzten Wochen habe ich fast nichts anderes gemacht als die illustrierte Wissenschaft zu lesen.«
    »Und doch sind keine zwei Menschen oder auch keine zwei Schweine völlig identisch. In der ganzen Schöpfung gibt es keine zwei Strohhalme, die ganz miteinander übereinstimmen.«
    Cecilie fiel eine Tüte mit japanischen Papierkugeln ein, die ihr Vater vor vielen Jahren einmal geschenkt hatte. Sie waren so klein gewesen, daß kein Unterschied zu erkennen gewesen war. Aber als sie sie in Wasser gelegt hatte, waren sie aufgequollen und hatten sich zu verschiedenen Figuren in allen möglichen Farben entfaltet. Und keine zwei von ihnen waren ganz gleich gewesen.
    »Ich habe ja schon gesagt, ich denke nicht gern daran, daß ich ein Tier bin«, wiederholte sie.
    Ariel berührte mit einer Hand vorsichtig ihre Decke. Sie konnte nur mit Mühe einen leichten Druck an der einen Wade spüren.
    »Du bist ein Tier mit einer Engelsseele, Cecilie. Und von beiden hast du gerade das Beste. Klingt das nicht toll?«
    »Ich weiß nicht .«
    »Diese Kombination ist doch das eigentliche Kunststück. Du bist bei vollem Bewußtsein, genau wie die Engel im Himmel. >Guten Abend, junger Mann! Ich bin Cecilie Skotbu. Darf ich um diesen Tanz bitten?<«
    Der Engel Ariel streckte den Arm aus und machte eine tiefe Verbeugung. Er schien direkt aus der Tanzschule zu kommen. Er fügte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher