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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Einschnitt war aus seiner Perspektive zu gravierend und erfordere deshalb völlig andere narrative Verfahren und ästhetische Lösungen als die bislang erprobten. Schalamow ging es darum, Erzählstrategien zu finden, um mit Hilfe literarischer Distanztechniken den »reinsten Empirismus« individueller Lagererfahrung zu überwinden und das Lager, wie Semprún es formulierte, »in der Gegenwart zu erzählen«.
    In seinen poetologischen Reflexionen, die er in Essays, Tagebuchnotizen und Briefen unternimmt, bezieht sich Schalamow hauptsächlich auf die »Erzählungen aus Kolyma«. Neben den bereits genannten autobiographischen Texten »Das vierte Wologda« und »Wischera« verfaßte er ein Leben lang Gedichte, eine Reihe von meist kurzen, fragmentarischen Erinnerungen an das Moskau der 20er/30er Jahre und an die Lagerhaft in der Kolyma-Region. Die Erinnerungen an die Kolyma enthalten außer einigen Kurznovellen, deren Poetik an die »Erzählungen aus Kolyma« erinnert, auch essayistische Textpassagen mit Überlegungen zum Zusammenhang von Gedächtnis, Sprache und erinnerndem Schreiben.
    Es ist unbestritten, auch für den Autor selbst, daß er in den »Erzählungen aus Kolyma« die konsequenteste Umsetzung seiner ästhetischen Maximen geleistet hat. »Jede meiner Erzählungen«, schrieb er 1971 in einem Brief, »ist eine Ohrfeige für den Stalinismus und wie jede Ohrfeige gehorcht sie reinen Muskelgesetzen...« An gleicher Stelle betont er, all seine Erzählungen seien im wahrsten Sinne des Wortes »herausgeschrien«. Schalamow verzichtet auf jegliche literarische Ausschmückungen, in seinen Erzählungen entwickelt er eine Poetik äußerster Dichte und Lakonizität, die den Leser erbarmungslos mit dem alltäglichen Leben und Sterben der Menschen in den Lagern konfrontiert. Angesichts der zivilisatorischen Regression, die nicht zuletzt an der Sprache im Lager, auch an der des Intellektuellen, ablesbar ist, fragt Schalamow, in welcher Sprache er mit dem Leser sprechen könne: »Wie begreiflich machen, daß das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren — so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden.«
    Wer in der ersten Person wahrheitsgetreu über seine Lagerhaft schreiben wolle, müßte sich eigentlich in ein »instinktives, primitives Denken« zurückversetzen und einer reduzierten, armen Sprache bedienen, schreibt er ausgehend von der eigenen Erfahrung. Schalamows Argumentationslogik belegt, daß er die Diskussion um die Sprache zur Frage nach der ästhetischen Distanz als Voraussetzung für sein Schreiben zuspitzt. Das implizierte für ihn nicht nur den Versuch, in der sowjetischen Gesellschaft, in der »ein Protest gegen den Tod (...) lange nur in der Sprache des Henkers möglich« gewesen war, »eine Sprache der Opfer des stalinistischen Terrors zu schaffen«, wie der Moskauer Philosoph Michail Ryklin treffend vermerkte. Schalamows Bemühungen um eine klare Differenzierung zwischen Opfer- und Tätersprache war Teil seiner prinzipiellen Suche nach Möglichkeiten einer narrativen Vergegenwärtigung der Logik des Tötens in den Lagern. Wichtigstes Anliegen war es, das Empfinden des Lagerhäftlings von einst, das rein Existentielle, und nicht die Weltsicht des Autors in der Gegenwart der Schreibsituation zu vermitteln. Er müsse aber, bekräftigte Schalamow, in seiner jetzigen Sprache schreiben, die sich deutlich von jener Sprache abhebe, welche er im Lager zur Weitergabe seiner damaligen einfachen Gefühle und Gedanken benutzt habe. Die Wahrhaftigkeit der Sprecherposition knüpfte er in erster Linie an die Aufgabe, die Empfindungen von einst in der richtigen Abfolge zu vermitteln.
    In den Erzählungen agieren »Menschen ohne Biographie, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft«, einzig im Moment der Gegenwart, wie Schalamow im Essay »Über Prosa« schreibt. In Schalamows Lagerwelt gibt es für den Menschen keine Hoffnung auf einen Ausweg. Die Seelenlage seiner Figuren erkundet Schalamow zumeist nicht. Seine Analyse »neuer psychologischer Gesetzmäßigkeiten« und »des Neuen im Verhalten des Menschen«, eines Menschen, der »auf die Stufe eines Tieres reduziert worden ist«, impliziert eine Ausblendung der Gefühle. Präziser gesagt, in den »Erzählungen aus
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