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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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der Konzentrations- und Vernichtungslager des 20. Jahrhunderts haben wiederholt zum Ausdruck gebracht, daß sie dem Lager selbst nach dem äußeren Ende ihrer Haftzeit nicht entrinnen konnten. Wer im Lager den Tod »durchlebt« (Semprún) hatte, trug ihn, so sehr er sich auch dagegen wehrte, zeitlebens in sich. Das Schreiben, die Möglichkeit, sich in der erinnernden Rekonstruktion mit dem Erlebten auseinanderzusetzen, hatte eine therapeutische Funktion. Die Verunsicherung aber, ob das Schreiben ein Weg sein könnte, um mit dem Erlebten fertigzuwerden, blieb.
    Zu jenen, die den moralischen wie den ästhetischen Aspekt der Frage nach der Überwindbarkeit des Lagers im Medium der Literatur reflektiert haben, zählt Jorge Semprún. »Ich habe nichts als meinen Tod, meine Erfahrung des Todes, um mein Leben zu erzählen, es auszudrücken, es voranzubringen«, heißt es in »Schreiben oder Leben« (1994): »Mit all diesem Tod muß ich Leben schaffen. Und die beste Art, das zu erreichen, ist das Schreiben. Doch das Schreiben führt mich zum Tod zurück, schließt mich darin ein, erstickt mich darin. So weit ist es mit mir: ich kann nur leben, wenn ich diesen Tod durch das Schreiben auf mich nehme, aber das Schreiben verbietet mir buchstäblich zu leben.« Schreiben bedeutet demnach, sich immer wieder dem Tod stellen zu müssen, ihn gleichsam immer wieder aufs neue »durchleben« zu müssen. Wie aber läßt sich eine derartige Erfahrung in Worte fassen, ohne sich dabei selbst zugleich dem »Nichts« auszuliefern? Semprún kommt in seiner weiteren Argumentation an einen Punkt, den er für sich als eine unüberwindbare poetologische Grenze der eigenen Schreibversuche markiert, eine Grenze jedoch, die er als ein primär moralisches Problem verstanden wissen will: »Mein Problem aber ist kein technisches, es ist ein moralisches Problem und besteht darin, daß es mir nicht gelingt, mit Hilfe des Schreibens in die Gegenwart des Lagers einzudringen, sie in der Gegenwart zu erzählen... So als gäbe es ein Verbot, die Gegenwart darzustellen... Daher beginnt es in allen meinen Entwürfen vorher, oder nachher, oder drum herum, es beginnt niemals im Lager... Und wenn ich endlich ins Innere gelange, wenn ich dort bin, bleibe ich stecken... Ich werde von Angst gepackt, ich falle wieder ins Nichts, ich gebe auf...« Was Semprún hier formuliert, ist eine kontrovers diskutierte ästhetische Grundfrage, die das Schreiben »nach Auschwitz« bzw nach dem GULag generell betrifft: Wie kann man das Lager überhaupt »in der Gegenwart« erzählen?
    Schalamow, das belegt sein Leben ebenso wie sein Werk, schreckte nicht so sehr die Vorstellung, sich im erinnernden Schreiben immer wieder dem Tod ausliefern zu müssen. Ihn schreckte vielmehr die Tatsache, die Verunsicherung der Überlebenden angesichts der Gefahren einer erneuten Konfrontation mit dem Tod könne in einem Verdrängen oder gar in einem Vergessen des Erlebten enden. »Ich erschrak angesichts der furchtbaren Kraft des Menschen — dem Wunsch und der Fähigkeit zu vergessen«, formuliert der Ich-Erzähler in der Erzählung »Der Zug«: »Ich erkannte, daß ich bereit war, alles zu vergessen, zwanzig Jahre aus meinem Leben zu streichen. Und was für Jahre! Als ich das begriff, hatte ich mich selber besiegt. Ich wußte, ich würde es meinem Gedächtnis nicht erlauben, all das zu vergessen, was ich gesehen hatte.« Die Gedanken des Protagonisten benennen die zentrale Lebensmaxime des Autors — Schalamow sah es als seine menschliche und literarische Pflicht an, die Erinnerung an das grauenvolle Geschehen in den Lagern des GULag gegen alle inneren und äußeren Widerstände wachzuhalten. Sein Schreiben war ihm ein Instrument, sich zur Wehr zu setzen gegen eine Welt, in der Terror und Gewalt regierten und der Mensch buchstäblich zu »Menschenmaterial« degradiert wurde.
    Das Lager, so lautet Schalamows Fazit des Erlebten, ist eine »Negativerfahrung«: »Der Mensch soll es nicht kennen, soll nicht einmal davon hören. Kein einziger Mensch wird besser oder stärker nach dem Lager. Das Lager ist eine Negativerfahrung, eine negative Schule, es wirkt zersetzend auf alle — auf die Chefs und die Häftlinge, auf Begleitposten und Zuschauer, auf Passanten und Leser von Belletristik.« Ungeachtet dieser Einsicht, besser gesagt, gerade im Wissen um die zerstörerische Wirkung der Lager schrieb Schalamow die »Erzählungen aus Kolyma«, setzte sich selber und seine Leser immer wieder mit aller
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