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Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis
Autoren: James Sallis
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hatte, hatte er längst Billy aus dem Wagen gezogen, mit der einen Hand packte er ihn hinten am Hemd, mit der anderen stützte er seinen Kopf ab. Der Mann kann kaum noch gerade stehen und gehen, aber hier zieht er locker einen Verletzten aus einem Auto. Billy lag in Nullkommanichts auf dem Bürgersteig, der Doc fühlte seinen Puls, tastete und klopfte.
    Donna und Sally Ann kamen aus dem Diner gelaufen, Donna noch ein halbes Schinkensandwich in der Hand. Drei Schritte auf der Straße flutschte ihr eine Gurkenscheibe aus dem Sandwich, auf die sie so fassungslos hinunterblickte wie alle anderen das Loch anstarrten, das Billys Buick Regal in die Fassade gerammt hatte. Country-Music, oder was heutzutage dafür gehalten wird, plärrte aus dem Radio. Irgendwer griff in den Wagen und schaltete es aus.

    »Die Pupillen sind okay«, sagte Doc. »Zumindest nicht geweitet. Würden Sie bitte zurück ins Büro gehen und mir Klebeband holen, Turner? Egal, welches, solange es nur robust ist. Isolierband wäre perfekt. Ich gehe davon aus«, fuhr er in gleicher Lautstärke fort, nun allerdings zu den sich nähernden Schaulustigen, »dass einer von euch auf die kluge Idee gekommen ist, Rory anzurufen?«
    »Mabel ist dabei, ihn ausfindig zu machen«, antwortete ihm Sally Ann. Mabel, die ihren Job in der Telefonvermittlung jetzt schon so lange machte, dass sie (so sagten manche) bereits von Alexander Graham Bell persönlich auf ihren Posten berufen sein mochte, war unser »Fräulein vom Amt«, inoffizielle Geschichtsschreiberin und Stadtausruferin in einem. »Außerdem versucht sie, Milly aufzutreiben.«
    Als ich hinzukam, nahm Doc gerade ein Ringbuch vom Rücksitz des Wagens und schob es unter Billys Kopf und Schultern. Er riss einen Streifen Klebeband ab und klappte die beiden Enden nach innen, um eine Art Wiege für Billys Kopf zu bauen. Dann zog er das Band hin und her, einmal rum und nach unten, bis Kopf und Kladde eine feste Einheit bildeten. Nachdem das erledigt war, schiente er das linke Handgelenk, an dem ein Knochen aus dem Fleisch ragte, mit Klebeband und einem Taschenbuch, das
er ebenfalls aus dem Auto hatte. Die Beine gerade von sich weggestreckt saß er da und klaubte mit Zeigefinger und Daumen, die er immer wieder an seiner Hose abwischte, Glassplitter aus Billys Gesicht.
    Jeder wollte wissen, wo der Bürgermeister steckte, aber Doc zuckte mit keiner Wimper.
    »Verflucht auch«, sagte er später, als wir warteten, »das war guuut!«, wobei er einige zusätzliche Us einbaute. »Ich hab nicht übel Lust, diesem jungen Arzt einen Tritt zu verpassen und meine Praxis wieder zu übernehmen.« Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Aber er kann was. Darauf hab ich geachtet.«
    »Die Arbeit fehlt Ihnen, stimmt’s?«
    »Verdammt, Turner, in meinem Alter fehlt mir so ziemlich alles.«
    Köpfe drehten sich, als Rorys Krankenwagen die Main Street heraufkam. Einst Lieferwagen des hiesigen Baumarkts, diente der alte Pontiac heute als Leichenwagen, und manche Buchstaben des alten Firmennamens schimmerten unter dem neuen Lack noch durch, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel. Rory hatte sich die Zeit genommen, die Gardinen im Laderaum zurückzuziehen. Er stieg aus, trug hüfthohe Anglerstiefel und brachte den Geruch des Flusses mit sich. Die Fahrertür ließ er offen. Lonnie stieg auf der anderen Seite aus, stand in
kniehohen Stiefeln da und starrte wortlos auf seinen jüngeren Sohn hinab.
    Durch Docs improvisierte Verbände sah es so aus, als hätte der Kopf einer Mumie Billys Körper übernommen. Natürlich hatte aus Lonnies Sicht schon vor langer Zeit etwas von Billy Besitz ergriffen.
    Ich erinnerte mich, wie ich bei meiner ersten Begegnung mit Billy dachte, dass ich wahrscheinlich noch nie einem argloseren Menschen über den Weg gelaufen sei. Damals trug er ausschließlich Schwarz, hatte zahlreiche Piercings und, soweit das einer von uns erkennen konnte, seine Eltern inbegriffen, keinerlei Plan, war einfach nur ein netter Junge, immer guter Dinge, der sich treiben ließ. Wenig später hatte er die Schule geschmissen, na ja, hatte sie eigentlich nicht geschmissen, sondern hatte sich auch da einfach treiben lassen. Ging einfach ein paar Tage nicht hin, dann eine Woche, und kehrte schließlich gar nicht mehr zurück. Arbeitete eine Weile im Baumarkt, aber auch das hielt nicht lange. Danach spielte er Schlagzeug in einer Band, die häufig außerhalb der Stadt in den Kneipen an der Old Highway auftrat, aber aus irgendeinem
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