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Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis
Autoren: James Sallis
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Milly liegt in einem Krankenhauszimmer in Memphis und fügt langsam die Puzzleteile ihrer Welt wieder zusammen. Vals Haus, mein Haus, nachdem es über hundert Jahre Verwüstung und Vernachlässigung überlebt hatte, wartete nun auf die Schläge, die es am Ende zu Fall bringen würden. Der Wetterdienst hatte einen schweren Sturm angekündigt, der sich genau auf uns zubewegte, sintflutartige Regenfälle, Windstärken über zehn, Trichterwolken. Wir können es bereits an diesem pflaumenfarben dunklen Himmel sehen, es in der auffrischenden Brise riechen, die sich allmählich einstellt, während am Rand der Stadt in den Häusern die Lichter angehen. Vögel haben sich auf den Strom-und Telefonleitungen niedergelassen,
sie dann verlassen. In der Ferne bellen Hunde.
    Der Sturm kommt. Und die Stadt, in ihrer letzten Stunde, wartet.
    Meine Tochter sitzt neben mir.
    Vor einer Stunde ging die Tür auf, direkt neben dem neuen Fenster, das wir schließlich haben einbauen lassen, und da war sie. Das Haar länger, ansonsten sah sie immer noch ziemlich aus wie zuvor. Bis auf die frischen Stiche über einem Auge.
    »Nette Narbe.«
    »Das Entscheidende ist, am Ende habe ich ihn überzeugt.«
    »Da möchte ich wetten.«
    Nach einem Augenblick sagte sie: »Doc Oldham hat angerufen.«
    »Der Mann ist ein öffentliches Ärgernis.«
    Wir machten Kaffee und erzählten uns, was passiert war, wie wir es früher oft getan hatten. Als ob nichts wäre. Ihre Polizeidienststelle hatte einen neuen Computer angeschafft, mit dem kein Mensch zurechtkam, auf der Straße war eine neue Droge aufgetaucht, letzten Monat hatten sie einen Mord ausgerechnet auf dem Parkplatz von Wal-Mart. Ich erzählte ihr alles über Billy, Eldon und den ganzen Rest. Erzählte ihr von Vals Haus. Und dass kurz vor
ihrer Ankunft Isaiah Stillman und eine Gruppe aus der Kolonie in der Main Street aufgekreuzt waren und gesagt hatten, sie seien gekommen, um zu helfen, wo Not am Mann sei.
    Auf ihren Vorschlag hin tranken wir den letzten Kaffee draußen und setzten uns auf die Bank, die von einer Generation Hintern oder mehr blank poliert war.
    »Guter Platz für die Show«, sagte sie.
    »Einen besseren findest du nicht.«
    Also, hier sind wir. Die Luft ist aufgeladen, elektrisch. Ich denke wieder an Lonnies Flugzeug, an diesen Augenblick, kurz bevor der Boden loslässt. Genauso fühlt es sich jetzt auch an.
    Starts. Landungen. Und die Lebensläufe dazwischen.
    »Dachte mir, ich bleibe vielleicht eine Weile hier, wenn das für dich in Ordnung ist«, sagt J.T.
    »Sollte wahrscheinlich mein Text sein.« Wir lachten beide. »Obwohl, so wie’s aussieht …«
    »Wer weiß. Könnte sein, dass ich meine erste fliegende Kuh sichte.«
    »Das ist wieder typisch, Miss Großstädterin. Amüsiert sich auf Kosten der armen Landbevölkerung.«
    Auf Könige und Zibeben kamen wir nicht zu sprechen,
soweit ich mich erinnere, aber auf so ziemlich alles andere, dort auf unserer Bank sitzend: auf J.T.s Kindheit, meinen alten Partner im MPD und meine Zeit im Knast, auf Ahnenforschung und wohin das Land politisch steuerte, wir sprachen über einen Roman, den sie kürzlich gelesen hatte, über das Leben in einer Kleinstadt, den Tag, an dem Kennedy starb, über Bier zum Frühstück damals in Vietnam, über unbelehrbare Wiederholungstäter und über Val.
    Dann saßen wir still da, eine Stunde lang, vielleicht länger, während Gewitterwolken heranrollten. Anfänglich sehen wir die gezackten Blitze und hören das gedämpfte Rumpeln nur durch die dunkle Wolkenwand. Dann bricht es durch. Der Regen, als er schließlich kommt, ist herrlich und sticht wie Nadeln.
    Eine Mülltonne aus schwerem Metall rollt vom Wind gepeitscht die Straße herunter. »Urbaner Steppenläufer«, kommentiert J.T., und als ich sie ansehe, hat sie Tränen in den Augen. Ich hebe eine Hand und berühre sanft ihr Gesicht.
    »Ich weine nicht, weil ich traurig bin«, sagt meine Tochter. »Ich weine, weil wir beide zusammen hier sitzen und uns das jetzt ansehen. Ich weine wegen unserer Freunde wie Doc Oldham und weil ich dich
kennenlernen durfte. Ich weine, weil die Welt so schön ist.«
    Das sollten wir alle tun.

Die Originalausgabe SALT RIVER erschien 2007 bei Walker & Company, New York

    Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2011
    Copyright © 2007 by James Sallis
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

    Redaktion: Heiko Arntz
Umschlaggestaltung: Eisele
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