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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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Dave nicht gerade angriffslustige Bären fing oder Waldbrände löschte, war er der supergesundheitsbewusste Mister Marathon. Einmal erzählte er mir, er hätteeine ganze Woche nur von Wasser, Bananen und Powergel mit Orangengeschmack gelebt. Für ihn war Essen Brennstoff.
    S’mores? Da hätte Mom ihm ja gleich einen großen Teller Styropor servieren können.
    Ich hielt weiter den Atem an, während Ranger Dave die Fondue-Gabel nahm und das Marshmallow über die Glut legte. Ganz bestimmt wollte er Mom nur einen Gefallen tun. Wir sahen zu, wie sein weißes Marshmallow erst goldgelb, dann braun und schließlich schwarz wurde. Er nahm es aus dem Kamin, blies die Flamme aus und stopfte die klebrig schwarze Masse in das Keks-Schokolade-Sandwich, das Mom ihm hinhielt.
    Ranger Dave verschlang seinen S’more und leckte sich anschließend jeden Finger einzeln sauber.
    Als er fertig war, schloss er bedächtig die Augen. »Ekelhaft«, verkündete er.
    Doch er nahm sich noch einen zweiten.
    Rings um uns spendeten die Leute höflich Beifall und Mom ging mit dem S’mores-Teller herum. Es stand ihnen ins Gesicht geschrieben, was sie dachten:
Ich mochte ja schon immer gern S’mores, aber jetzt, wo Claire Severance sie serviert, kann ich’s auch zugeben
.
    Dad schenkte unterdessen allen, die noch wollten, Sekt nach und lächelte dabei unentwegt über den Schatten, den Mom über den sanften Schein des Kaminfeuers warf und der uns alle einhüllte wie eine Decke. Wieder einmal hatte Mom ihren Zauber gewirkt. Dad hatte es vorausgesehen,Ranger Dave hatte es vorausgesehen (darum war er ja zu uns gekommen) und auch unsere Gäste und Angestellten hatten es vorausgesehen. Moms magische Kochkünste waren legendär. Es gab nichts, was sie mit ihrem Essen nicht wieder in Ordnung bringen konnte.
    Nichts, außer mir.
    Damit wir uns nicht falsch verstehen, ich hatte auch ganz annehmbare Tage, Tage, an denen ich nicht so viel darüber nachdachte, was ich durch den Umzug hierher alles verloren hatte – Cafés zum Beispiel oder große Kaufhäuser, Discos mit Konzerten und eine Schule mit Geldern für Kunst-, Musik- und Schreib-AGs.
    Doch in manchen Nächten konnte ich die Einsamkeit nicht ausblenden, dann lag ich wach und quälte mich, lauschte den Geräuschen des Santiam River, der hinter dem Haus durch unseren Garten floss, und bildete mir ein, es sei nur das vertraute Stadtgeschrei der Betrunkenen und Drogenabhängigen, die von einem Konzert im Crystal Ballroom nach der Sperrstunde heimwärts torkelten.
    Es gab nichts in meinem Leben, was nicht durch eine Rückkehr nach Hause – zu meinem richtigen Zuhause – wieder eingerenkt werden konnte.
    Zumindest dachte ich das an jenem Valentinstag, als ich noch hoffte, ich könnte wieder heil werden – wir alle könnten wieder heil werden.
    Jetzt weiß ich es besser. Ich weiß, dass es Dinge gibt, die wir verstehen und beherrschen können, aber eben auch die Wildnis des Unfassbaren. Unser Gasthaus lag an derGrenze dazwischen – es war das letzte Haus in einer Sackgasse, dahinter kamen nur noch Bäume und Berge und Himmel und Fluss, immer der Fluss.
    Und was dort geschah, an der Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, um das zu erzählen, brauche ich mehr Kraft. Am besten bleibe ich erst mal hier bei Marshmallows und Schokolade.

2
    Verlorn, verlorn, verlorn …
    Am Morgen darauf war Samstag. Als ich aufwachte, war der Fluss in einer neuen Stimmung. Ich dachte, ich würde jedes seiner Geräusche schon kennen. Wenn er hohes, schnelles, schlammiges Wasser führte, schien er zu schreien; wenn das Wasser niedrig und trügerisch und besänftigend dahinfloss, klang es fast wie ein Wiegenlied, eins von den schönen, aber richtig brutalen.
Komm, tauch die Zeh’n in mein eisiges Herz. Ich wieg dich in Schlaf … und dann schmettere ich deinen Kopf gegen einen Fels unter Wasser
.
    Ich hatte den Fluss wütend gehört, ich hatte ihn verspielt gehört, doch bis zu jenem Morgen hatte ich noch nie gehört, wie der Fluss trauerte.
    Mein Schlafzimmer lag auf dem Dachboden unter einer Schräge, ein mickriges Kämmerchen, das einst der Bediensteten oder einer frostigen Nonne gehört haben musste, zur Zeit der Depression, als meine Urgroßmutter das
Patchworks
eröffnete. Damals war es eine Art gemütliche Kaserne für Holzfäller gewesen, ein Ort, an dem eine Frau mit vornehmem Südstaaten-Singsang Männern, die sich daran erinnern wollten, dass sie nicht durch und durch Wilde waren, haufenweise Milchbrötchen und
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