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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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Zuckermaiskolben servierte.
    Das Krähennest, wie Mom mein Zimmer nannte, befand sich in dem Zipfel des Dachs, der dem Fluss zugewandt war, und hatte ein Türmchen mit einem herrschaftlichen Ausblick: dahinrauschendes Wasser, hohe Bäume, die sanften Hügel des Vorgebirges – wenn ich im Winter das Fenster öffnete und mich hinauslehnte, konnte ich fast bis zum Hoodoo Ski Bowl sehen. Aber da ich nicht Ski fuhr, war das keine große Sache für mich. Ich verspürte nicht den Drang, Berge zu bezwingen oder sie hinunterzurasen. Ich war Läuferin und meine Einstellung war: Bergab ist gemogelt.
    Mein Zimmer war auch das lauteste im ganzen Haus, vor allem bei Sturm. Zwischen dem Regen, der auf das Dach klatschte, und dem Wildwasser, das hinter dem Haus herrauschte, wachte ich meistens wie gerädert auf.
    Doch nicht an jenem Morgen. An jenem Morgen fühlte ich mich haltloser als sonst, so als hätte jemand einen Anker gekappt.
    Ich stieg aus dem Bett und zog die drei übereinanderliegenden alten Steppdecken glatt. Dabei schloss ich die Augen und lauschte.
    Es klang eindeutig, als würde der Fluss weinen.
    Ich schaute aus dem Fenster. Das Wasser war braun und stand hoch, aber es sah nicht so aus, als würde es eine Überschwemmung geben, darum schüttelte ich das mulmige Gefühl ab, schlüpfte in meine Jogginghose und rannte die Treppe hinunter.
    Im Restaurant saß Dad an seinem Lieblingstisch vor dem Panoramafenster und aß Waldbeer-Vollkornwaffeln. Hin und wieder sah er zu den Baumwipfeln am gegenüberliegenden Ufer hoch, um sich zu vergewissern, dass Adler Fred noch in seinem Horst war.
    Ich hoffte, mich an ihm vorbeischleichen zu können, doch er blickte auf und sah mich.
    »Stehen geblieben, Fräulein. Wo willst du hin?«
    Wenigstens ein Mal wäre ich gern ohne sein Generve davongekommen. Der samstagmorgendliche Lauf war meine einzige Stunde Freiheit in der Woche. Noch vor ein paar Monaten hatte ich mir ausgemalt, ich könnte mit ganz anderen Sachen durchkommen, wenn Dad erst anfinge, Antidepressiva zu nehmen. Aber die Medikamente hatten ihn nur noch wachsamer gemacht.
    »Bis zu Tiny und zurück.« Das war meine Runde, etwa zehn Kilometer. Sie führte die Santiam River Road entlang, am
Kid for Sale
-Schild und der Forststation vorbei zu Tinys Tankstelle am Highway 22 und dieselbe Strecke zurück.
    »Hast du dein Handy?«
    Ich zog es aus meiner Sweatshirttasche und zeigte es ihm.
    »Genug Saft drauf?«
    Ich nickte.
    Er sah auf seine Armbanduhr und drückte ein Knöpfchen. »Ich ruf Tiny an.«
    Dad sagte, allein bei dem Gedanken, dass ich mich auf dieser abgelegenen Straße ›herumtreibe‹, laufe es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Deshalb versetzte er unsere Nachbarn in Alarmbereitschaft, die nach mir Ausschau halten sollten: die Armstrongs beim
Kid for Sale
-Schild, Ranger Dave (der heute Morgen hoffentlich kein so gebrochenes Herz mehr hatte) und schließlich Tiny von
Tinys Tankstelle und Kiosk
. Die Nachbarschaftswache war zwar lieb gemeint, aber sie drückte aufs Tempo. Ohne sie hätte ich meine Bestzeit um dreißig Sekunden toppen können, locker.
    Mom steckte den Kopf durch die Küchentür. Von ihren Armen pellten sich Teigschnüre. »Auf der Warmhalteplatte steht ein Frühstücks-Burrito für dich«, sagte sie und knetete dann weiter ihren Brotlaib in Form.
    Ich wollte jetzt nicht essen. Dad hatte seine Uhr schon gestellt; es war Zeit aufzubrechen.
    Ich stürmte durch die Holztür hinaus in die feuchtkalte Luft. Es regnete sintflutartig, aber das war ideales Laufwetter. Beim ersten Schritt über die Veranda wäre ich fast über ein Brett gestolpert, auf dem drei Sandkuchen arrangiertwaren. In jedem davon steckte wie eine Geburtstagskerze ein Stängel mit einer dicken lila Blüte (Lupinen?).
    Wow, tolle Deko
, dachte ich.
Mom wäre beeindruckt
.
    Von wem das Geschenk kam, konnte ich mir denken: von Karen, dem drittältesten der vier Armstrong-Kinder, das Mädchen mit dem Blauwal-Regenmantel und der kreuzförmigen Narbe auf der Stirn,
Kid for Sale
. Tags zuvor hatte ich auf sie und ihre Geschwister aufgepasst, als ihre Eltern im Gasthaus einen Happen essen waren. Die Sandkuchen mussten Karens Dankeschön sein.
    Ich schob sie neben die Tür und lief los. Es sollte ein sehr langes Rennen werden.

    Von allen Häusern in Hoodoo war unseres das einzige mit ›ansprechender Vorderansicht‹. Sämtliche anderen Einwohner konzentrierten ihr gärtnerisches Geschick auf ihre Anlagen hinter dem Haus, wo der Fluss verlief.
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