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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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    Wahrscheinlich gibt es Schlimmeres, als am Valentinstag klatschnass und ohne Verabredung Häschenkadaver in eine Abfalltonne zu schaufeln, aber wenn, dann weiß ich nicht, was. Dad würde vielleicht sagen, es ist schlimmer, tot im Graben zu liegen. Mom würde sagen, noch schlimmer ist es, mit zerschlissener Unterwäsche tot im Graben zu liegen, woraufhin Dad erwidern würde, tot ist tot, und was hat Unterwäsche überhaupt damit zu tun? Und dann würde Mom ihm mit einem Stück Kürbiskuchen, köstlich mit Muskat und Zimt gewürzt und mit einer dicken Frischkäseglasur überzogen, den Mund stopfen, und beim Essen würde Dad im Stillen triumphieren, während die wahre Siegerin in die Küche zurückging, um nach ihrem Lammrücken zu sehen.
    Jedenfalls war es zehn Uhr abends am Valentinstag, dem romantischsten Tag im Jahr. Adler Fred hatte seinen jüngsten Fang mal wieder hinterm Haus auf der Veranda abgelegt und ein paar unserer Gäste hatten sich beschwert. Also ging ich raus, um das Problem zu beseitigen, bevor die Hunde aus der Nachbarschaft es taten.
    Da gerade Februar war und wir uns auf der Westseite der Cascade Mountains befanden, war ich noch keine Minute draußen und schon in kaltem Regenwasser mariniert. Ich tat mein Bestes, um das Kadaverproblem schnell zu beseitigen, während sich drinnen im
Patchworks
die in Rotund Rosatönen gekleideten Abendgäste von den Tischen im Restaurant zu den Sofas um den Flusssteinkamin im Wohnzimmer vorgearbeitet hatten, wo sie nun aneinandergekuschelt saßen und sich gegenseitig Gabeln mit Schokoladenfondue in den Mund schoben, die Wangen gerötet vor Wärme und wachsender Leidenschaft. Nie hatte ich mich so
draußen
gefühlt, als wäre ich kein Mädchen aus Fleisch und Blut, sondern ein Geist aus Regenwasser, für immer dazu verdammt, vor den Fenstern von Häusern umherzuschweben, in die ich nicht hineinkam.
    »Ich bin versetzt worden«, sagte eine Stimme hinter mir und holte mich in meinen Körper zurück. Als ich mich umdrehte, sah ich eine dunkle Gestalt in Regenparka und schweren Stiefeln die Verandastufen hinaufstapfen. Sie zog die Kapuze vom Kopf und ich atmete auf. Es war Ranger Dave.
    »Versetzt? Wie meinst du das?« In Gedanken war ichnoch bei dem Adler, der an einem Häschen herumgepickt und es dann auf unserem Rasen liegen gelassen hatte.
    »Versetzt. Im Stich gelassen. Abserviert. Wie ein alter Reifen oder ein dreibeiniger Hund«, sagte er.
    Das war zwar ein merkwürdiger Vergleich, aber ich verstand ihn trotzdem. Unser Haus war das letzte in einer Sackgasse am Ende der Welt. Irgendwelche Leute fanden die Ecke hier toll, um Sachen loszuwerden, die sie nicht mehr gebrauchen konnten. Autoreifen, Hundewelpen, Katzenjunge, Kühlboxen aus Styropor – alles tauchte in unseren Gräben auf. Einschließlich Ranger Dave.
    Der Arme. Sein Gesicht wirkte ausgehöhlt, wie ein von der Strömung unterspültes Flussufer. Er brauchte Hilfe, und zwar schnell. Mein Selbstmitleid würde ich auf später verschieben müssen. Ich schippte den Häschenkadaver in die Tonne mit der Aufschrift GARTENABFÄLLE und stellte die Schaufel an die Hauswand.
    »Dann mal rein mit dir«, sagte ich.
    Während Ranger Dave im Wintergarten seinen nassen Parka ausschüttelte, lehnte ich mich über das mit geschnitzten Bibern verzierte Geländer der Treppe, die zur
Astro-Lounge
hinunterführte.
    »Dad!«, rief ich. »Ranger Dave ist da!«
    Dads Kopf erschien am Fuß der Treppe. In der Hand hielt er einen riesigen Bierhumpen, den er gerade abtrocknete.
    Seit fast einem halben Jahr betrieben wir nun einen Landgasthof und noch immer hatte ich mich nicht an meinen neuen Vater gewöhnt. Er war von Dad-dem-konservativen-Anwaltzu Dad-dem-haarigen-Wikinger mutiert. Hatte einen Bart im Gesicht. Trug Holzfällerhemden.
    »Veronica, was hab ich dir zum Thema Schreien gesagt?«, rief er genauso laut wie ich. Dann registrierte er das Regenwasser, das an mir hinunter auf den Teppich tropfte. »Hol dir bitte ein Handtuch und zieh dir was anderes an. Und wasch dir die Hände!«
    Ich überhörte ihn.
    »Ranger Dave hat eine Krise.«
    Dad und ich sahen uns eine Sekunde lang an.
    »Was für eine Krise?«
    »Frauenkrise.«
    Dad wischte immer noch an dem Humpen herum, obwohl er längst trocken und sauber war. »Bin gleich da«, sagte er schließlich.
    Ranger Dave hingegen hörte entweder nicht, wie ich seinen Kummer ausposaunte, oder es war ihm egal. Er zog die Stiefel aus und schlurfte zum Kamin hinüber, wo er sorgsam die
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