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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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machen.

    Heute Morgen saß Ranger Dave trocken und zufrieden auf der überdachten Veranda und schlürfte einen Becher Kaffee. Seine langen braunen Haare hingen in wirren Zotteln herab. Er trug einen Morgenmantel mit weiten Ärmeln, und um seine Schultern wie eine Stola drapiert lag ein Waschbär, den er mit Spritzkuchenhäppchen fütterte. Der Waschbär nahm sie in die Pfoten und fraß sie in kleinen feinen Bissen auf. Als das Tierchen uns vorbeilaufen sah, erstarrte es, und Thor stellte die Lauscher auf.
Ich wittere Beute
. Doch als ich weiterrannte, kam er mit.
    Sobald ich Ranger Dave erblickte, spannte ich die Muskeln an, bereit zum Sprint. Ich zog die Ellbogen nach hinten und meine Laufschritte wurden zu ehrgeizigen Sprüngen. Dann sah ich wie in Extremzeitlupe zu, wie Ranger Dave einen Knopf an seiner Stoppuhr drückte.
    Obwohl ich zu weit weg war, meinte ich, das Klicken zu hören, und es klang wie das Wort
los
. In mir legte sich ein Schalter um und mein Rudel und die Landschaft um mich herum verschwanden. Ich war nur noch Bewegung, eine schnelle Strömung, stark genug, jedes Hindernis auf meinem Weg zu überwinden.
    Lauf, Ronnie, lauf
.
    Und ich lief. Ich lief mir die zerrupften, sehnigen Häschenkadaver von der Seele. Ich lief mir den Umzug von der Seele und das Burn-out-Syndrom meines Vaters und Mr Armstrongs Sorge und die verlorene Hoffnung auf Freundschaften mit Zukunft und auf eine Zukunft für mich selbst.
    Nach einer Meile blieb ich stehen und schlug schwer keuchend die Zapfsäule an Tinys Tankstelle ab. Ich zog mein Sweatshirt hoch, um mir den Regen vom Gesicht zu wischen. Dann sah ich auf.
    Dort oben lag der kurvige Highway mit seinem schmalen Randstreifen und dem lärmenden Verkehr. Lastwagen mit riesigen Baumstämmen donnerten vorbei, Wohnmobile mit Fahrrädern am Heck, schneespritzende Geländewagen mit Skiträgern – alle auf dem Rückweg nach Portland. Nur ich nicht. Für mich war hier am Highway Schluss. Zu Fuß ging es einfach nicht weiter. Und heute wie an jedem Samstag, wenn ich dort meiner Grenze gegenüberstand, begriff ich, dass ich vor allem aus einem Grund lief: weil ich nicht davonlaufen konnte.

    Tiny winkte mir von seiner Ladentheke aus zu und hielt kurz beide Daumen hoch. Ich war schnell gewesen, aber das interessierte mich jetzt nicht, denn ich musste umkehren und zurück. Ich gönnte mir ein paar Schritte in lockerem Trab. Thor lief neben mir her, Trixie und Bailey sprangen ausgelassen hinterdrein. An der Forststation würde ich wieder anfangen zu sprinten.
    Doch auf halbem Weg dorthin stellte sich plötzlich Thors Knickohr auf. Er sah nicht in die Richtung, in der sich Ranger Daves Waschbär befand – er sah die Böschung hinunter zum Fluss.
    Ich stellte mich neben ihn und spähte über den Rand.
    Dieser Lärm! Es war so laut hier!
    Verlorn, verlorn, verlorn
… ich fühlte, wie es in meinem Kopf anschwoll, pochte und meinen Herzschlag seinem Takt anglich.
    Gleich unterhalb der Stromschnellen gab es einen kleinen Strudel, eine Stelle, die nicht breiter war als ich. Dort ragte etwas aus dem Wasser, etwas unnatürlich Blaues.
    Was immer es war, es hatte sich an einem Baumstamm verhakt und drehte sich kreisend im Wasser.
    Ich glaube, ich wusste schon da, was es war. Aber ich sagte mir: nein. Es muss etwas anderes sein. Ein ausgesetzter Hund vielleicht. Ein Reifen. Eine Reisetasche. Ein rostiges Fahrrad.
    Dann dachte ich: Das hat bestimmt schon jemand anders gesehen. Ich kann unmöglich die Erste sein. In diesem Augenblick wählt ein patenter Nachbar den Notruf. Dann fiel mir wieder ein, wie gemächlich Ranger Dave seinen Kaffee getrunken und wie Tiny die Daumen hochgehalten hatte. Niemand, der gesehen hatte, was ich jetzt sah, konnte noch in aller Ruhe Kaffee schlürfen.
    Und dann wurde mir klar:
Ich
war hier.
Ich
war die Rettung.
    Ich stieg die Böschung hinunter, sprang in den Strudel und machte den blauen Regenmantel vom Baumstamm los. Der Körper hörte auf, sich im Kreis zu bewegen, und drehte sich mit den Beinen flussabwärts. Ich griff mit beiden Händen direkt unter die Arme. Was ich umfasste, warkalt und ekelerregend weich. Ich zog mit aller Kraft. Der Körper hing immer noch fest.
    Ich zog noch einmal, und ein
Fump
war zu hören, als wenn etwas Festgesogenes sich löst, und der Körper kam frei. Ich hievte ihn ans Ufer und drehte ihn auf den Rücken.
    An einer Seite ihres Kopfes klaffte eine Wunde. Ich sah kein Blut, nur aufgequollene Haut.
    Ihr Gesicht war braun vom
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