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Dunkle Wasser

Dunkle Wasser

Titel: Dunkle Wasser
Autoren: Mary Jane Beaufrand
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schlammigen Wasser, und ich säuberte es, so gut ich konnte. Unter dem Schmutz war es aufgedunsen und bleich. Ihre Augen standen offen, aber sie sahen nirgendwohin. So blicklos sahen sie aus wie weißes Gallert.
    Ich fasste sie am Handgelenk und tastete nach ihrem Puls. Ihre Haut war nicht kälter als meine. Ich hielt mir die Armbanduhr vors Gesicht und fing an zu zählen. Nichts. Ich konnte ihren Puls nicht fühlen. Ich probierte es am Hals, aber auch da fühlte ich nichts. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich es vermasselte.
    Vielleicht sollte ich lieber gleich zur Wiederbelebung übergehen. Ich setzte mich auf sie und drückte mit den Handballen ihr Brustbein herunter. Schlammiges Wasser schwappte aus ihrem Mund, sonst passierte nichts. Sie regte sich nicht, schaute nicht.
    Was machte ich falsch? Steckte ihr vielleicht etwas im Hals? Ich drehte ihren Kopf auf die Seite, griff ihr mit zwei Fingern in den Mund und holte noch mehr Schlamm und ein paar Kieselsteine heraus. Immer noch keine Reaktion.Ich griff ihr immer tiefer in den Hals und dachte die ganze Zeit: Ich werde sie noch ersticken.
Na los
. Warum tat sich denn nichts?
    Vielleicht war ich zu zaghaft. Ich zog die Finger aus ihrem Mund und schlug ihr auf den Rücken, zuerst leicht und dann immer fester. Als ich schließlich aufgab und sie losließ, rollte sie zurück wie ein Baumstamm. Ihr Arm fiel schlaff zur Seite. Es war, als hätte sie keine Knochen.
    Ich ging wieder in die Hocke. Irgendetwas musste ich vergessen haben. Das hier war die unbeholfenste Rettungsaktion der Welt. Nachher, wenn wir beide wieder im
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säßen und eine Tasse heiße Schokolade schlürften, würde sie mir garantiert die Meinung geigen. Karen hatte keine Nachsicht mit meiner Stadtmausigkeit. Bestimmt fand sie, dass es keine Entschuldigung dafür gab, dass ich meine Erste-Hilfe-Kenntnisse nicht parat hatte, genauso wenig wie dafür, dass man nicht immer automatisch wusste, wo Norden war.
    Ich sah hoch. Norden half mir auch nicht weiter, hier wo die Bäume alles überdachten und jeder Stamm rundherum mit Moos bewachsen war.
    Was sollte ich tun? Ich zog meine Jacke aus und deckte ihren kalten Körper zu. Mir gingen die Ideen aus.
    Thor, der weiter oben am Ufer stand, hatte mit dem Winseln aufgehört und jaulte nun laut, die Schnauze zum grau verhangenen Himmel gerichtet. Trixie und Bailey fielen mit ein. Hinter mir schwoll die Stimme des Flusses an.
Verlorn! Verlorn! VERLORN!
Das Jaulen und das reißendeWasser erhoben sich zu einem gewaltigen Schrei, der mir im Kopf dröhnte, und schließlich wusste ich, weil alles um mich herum es mir zurief, dass ich versagt hatte.
    Mit zwei Sätzen erklomm ich die Böschung. Das immerhin konnte ich tun: Ich konnte laufen. Ich konnte Hilfe holen. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Ich rannte los, an meinem Rudel vorbei, zu Ranger Dave.
    Ich dachte, ich wäre schon öfter schnell gelaufen, doch das war nichts im Vergleich zu jetzt. Nun rannte ich so schnell, und meine Beine waren so kalt, dass ich nicht mal merkte, wie sie den Boden berührten.
    Ich flog.
    Schon während ich lief, wusste ich, dass sie tot war, aber das war es nicht, was mich wahnsinnig machte. Es war auch nicht ihr kleiner Körper oder der vertraute blaue Regenmantel. Die kreuzförmige Narbe auf der Stirn war es – die Narbe, die sie sich vor sechs Monaten geholt hatte, als sie am
Kid for Sale
-Schild Trampolin gesprungen war.

3
    Eins sollte man vielleicht über Karen wissen, und zwar dass sie meine Karen war. Nicht im buchstäblichen Sinne natürlich. Sie war zehn. Ich hätte sie zur Welt bringen müssen, als ich noch zur Grundschule ging.
    Nein, sie war meine Karen, weil es zwischen uns eine Verbundenheit gab, wie es sie zwischen mir und ihren Geschwistern nicht gab. Sie war meine Führerin und ich ihre Retterin.

    Zum ersten Mal war ich Karen letztes Jahr im August begegnet. Damals wohnte ich erst seit drei Monaten in Hoodoo und seit zweien war das
Patchworks
mäusefrei. MomsRestaurant und die
Astro-Lounge
florierten bereits, dank eines Schilds am Highway:
    BENZIN ESSEN UNTERKUNFT
    CLAIRE SEVERANCE’
    GASTHAUS PATCHWORKS
    3 MEILEN
    An jenem Samstag war das Wetter noch gut, der Fluss führte wenig Wasser und die Waldbrandgefahr war hoch. Als ich eine Meile meiner Laufstrecke hinter mir hatte, hörte ich ein Weinen.
    Ich schloss die Augen und horchte. Vom Fluss kam es nicht. Er klang ruhig und stimmungsvoll, wie das Hintergrundgeplätscher im Wartezimmer eines
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