Duerers Haende
Ja, das war ein Verbrechen, das sich wie Rache für ein ungeheures Unrecht ausnahm. Aber war der Juniorchef der Spedition überhaupt zu solchen großen Gefühlen imstande?
Nachdem sie das Rathaus hinter sich gelassen hatte und nur mehr wenige Schritte vom Hauptmarkt entfernt war, legte sie einen erneuten Stopp ein. Vor ihrem inneren Auge tauchten plötzlich, sie wusste selbst nicht, warum, die Freys auf. Wie der Vater seine Hand begütigend, ja mehr noch: liebevoll auf die Schulter des Sohnes legte. Und welch große Kraft diese kleine Geste hatte – nur ihr war es zu verdanken, dass der wie wild um sich schlagende Joachim Frey seine Beherrschung wiederfand. Eine sehr enge Vater-Sohn-Beziehung. Liebe war schon immer ein starkes Mordmotiv. Nein, das ist zu weit hergeholt. Oder doch nicht …? Nun aber schüttelte Paula Steiner ihre Grübeleien ab und setzte sich wieder in Gang.
Eva Brunner saß an Heinrichs Schreibtisch und machte offenbar ihre zwei Fleißaufgaben: Der ganze Tisch lag voll mit Computerausdrucken, bunten Markern und Blättern mit handschriftlichen Notizen. Als die Kommissarin das Bürozimmer betrat, blickte die Anwärterin nur kurz auf.
»Herr Bartels ist schon wegen Kramers Konten unterwegs. Ich hatte ihn gefragt, ob ich mich in der Zwischenzeit auf seinen Platz setzen darf. Sie sehen ja selbst – für den ganzen Krempel hier«, sie zeigte missmutig auf die vor ihr liegenden Papiere, »hätte mein Schreibtisch nicht ausgereicht. Er hat es mir erlaubt.«
Nanu, »Krempel« und kein herzlicher Morgengruß wie sonst? Das deutete auf eine über Nacht rapide gedrosselte Arbeitseuphorie ihrer jungen Mitarbeiterin hin. Sie war sich sicher, an diesem Morgen empfand die Kommissaranwärterin Brunner die polizeilichen Aufgaben nicht mehr als »wahnsinnig interessant, richtig aufregend und einfach geil«, sondern als das, was sie in der Regel waren: als monotones, langwieriges Abarbeiten von Pflichten, bei dem es so gar nicht auf Phantasie, nur auf pedantische Sorgfalt ankam.
»Irgendwann, wenn dieser Fall abgeschlossen ist, müssen wir uns um Ihre Möbel kümmern. Ich weiß schon, dieser kleine Beistelltisch aus der Teeküche ist keine Lösung auf Dauer. Ich vermute, Sie bearbeiten gerade Kramers Kundenkartei und seine Anrufverzeichnisse?«
Als Antwort erhielt sie nur ein geschäftiges Nicken.
»In welcher Reihenfolge?«
»Ich habe mit den Telefonlisten angefangen. Zu der Kundenkartei bin ich noch nicht gekommen, ich bin ja auch erst seit einer halben Stunde im Büro.« Das klang wie ein Vorwurf, adressiert an die Kommissarin, die ihr nicht nur diese öden Arbeiten aufgehalst hatte, sondern auch noch schier Unmögliches erwartete.
»Zeigen Sie mir bitte mal die Kundenliste. Ich glaube, die können wir gleich ad acta legen.«
Stumm und mit angestrengt-pikiertem Gesichtsausdruck überreichte ihr Eva Brunner die Papiere. Sie überflog die Ausdrucke und kam schnell zu dem Schluss, dass hier nichts zu holen war. Außer der Erkenntnis, dass knapp vierhundert Kunden, davon vier Fünftel seit Jahren ohne jeden Kontakt, geschweige denn mit einer finanziell einträglichen Vermittlung abgeschlossen, einfach zu wenig für Kramers aufwendigen Lebensstil waren.
»Die dürfen Sie schon abheften. Die bringen uns im Augenblick nicht weiter. Und jetzt schauen Sie sich die Anruftabellen von diesem Dienstag, an dem Kramer umgebracht wurde, und von dem Tag davor an. Taucht da irgendwo die Nummer der Spedition Frey-Trans auf?«
Schweigend machte sich Eva Brunner an die Arbeit. Als sie von dem Papierstapel aufsah, schien sie ihren Elan und einen großen Teil ihres Diensteifers wiedergefunden zu haben.
»Ja, dreimal. Kramer hat die Spedition am Montag in der Früh und am Nachmittag desselben Tages angerufen. Am Dienstagnachmittag wurde er von Frey-Trans angerufen.«
»Wie lange dauerten diese Gespräche?«
»Am Montagmorgen drei und am Nachmittag vierundvierzig Minuten, am Dienstag knapp zwei Minuten.«
Kramer telefoniert mit Frey an diesem Montagmorgen, um ihm anzukündigen, er werde den Crossfire nun zurückbringen; am Nachmittag desselben Tages meldet er sich noch mal bei ihm, nachdem es mit der Rückgabe nicht geklappt hatte – Frey und Kramer reden jetzt eine Dreiviertelstunde miteinander, die meiste Zeit wahrscheinlich über ihren und Heinrichs Besuch in der Donaustraße. Und mit dem kurzen Anruf am Dienstagnachmittag hat Frey sich für den Abend desselben Tages in Kramers Büro eingeladen. Eine Selbsteinladung
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