Duerers Haende
Schmuggel verwickelt waren und wo jede neue Regierung als Erstes immer den Zollchef auswechselte. Wo heute noch tagtäglich Unmengen von Zigaretten Montenegro, Bosnien oder Albanien durchquerten auf ihrem Weg in die EU. Ware, deren Herkunft oftmals nicht mehr zurückzuverfolgen war und die dann auf dem Schwarzmarkt landete. Oder eben in den Verkaufsständen an der tschechisch-deutschen Grenze. Ganz in ihrer Nähe.
Das war kein Schmuggel im herkömmlichen Sinn wie der heutzutage fast schon folkloristisch anmutende Schwarzhandel von Spielkarten, Salz und Kaffee im vergangenen Jahrhundert. Bei den Zigarettendeals ging es um astronomische, unvorstellbar hohe Summen. Sie erinnerte sich an die Presseberichte über die Montenegro-Connection, der vorgeworfen wurde, mehr als eine Milliarde Euro aus dem Tabakschmuggel gewaschen zu haben. Mit solchen Deals ließ sich mittlerweile mehr verdienen als mit dem Drogenhandel. Und natürlich hatte die Mafia dieses lukrative Geschäft schon seit Jahren unter sich aufgeteilt und fest in ihrer Hand. Politiker, die sich weigerten, dabei mitzuspielen, oder ehemalige Bandenmitglieder, die in Verdacht standen, die Seite zu wechseln, wurden liquidiert.
Hatte nicht auch Karsten Kramer wie ein Pate agiert und reagiert? Seine Antiquitäten aus der Kolonialzeit, die Kreuzigungsgruppe im Schlafzimmer – sprach nicht daraus eine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten? Eine tiefe Verbundenheit zum mittelalterlichen Lehnswesen, das sich in Herrschende und Beherrschte aufteilte? Eine Gesellschaftsform, die den feudalen Gedanken von Gefälligkeit und Unterwerfung noch nicht in Frage stellte. Als man sich Macht, Reichtum und Straffreiheit noch beliebig nehmen durfte, wenn man auf der richtigen Seite stand. Und Kramer war sich sicher gewesen, auf der richtigen Seite zu stehen.
Daher auch das im Grunde triviale Arrangement der betenden Hände, mit dem er ein letztes Mal auf seine Herrscherrolle verwies. So hatte sich Kramer gesehen – als Gebieter über all die Stapler- und Berufskraftfahrer, mit denen er seine Agentur aufbaute und die er im Grunde verachtete. Shengalis Hände waren keine Ermahnung nach außen, sich an Vereinbarungen zu halten, sondern vielmehr eine Art beglaubigtes Dokument, das seine Macht unterstreichen sollte. Kramers Vergewisserung vor sich und aller Welt: Ich bin der Herr über Leben und Tod. Er spielte den Mafia-Boss, der von seinen Abhängigen unerschütterliche Treue verlangte und Verrat mit der Höchststrafe ahndete.
Doch halt! Mafia-Bosse lassen morden, morden nicht selbst. Also war Kramers Position im hierarchischen Gefüge nicht so unumschränkt, wie er sie gesehen hatte. Über ihm musste noch jemand sein. Jemand, dem Kramer seinerseits eine Gefälligkeit schuldete. Und dieser Jemand konnte nur einer sein – Heinrichs böser Onkel, Joachim Frey.
Erst spät nach Mitternacht wankte sie in ihr Bett. Die Flasche Schaumwein war leer und ihr Kopf frei. Morgen beziehungsweise heute würde sie das letzte Kapitel in dieser Arbeitsamt-und-Privatvermittler-Anzeigen-und-Gutschein-Kraftfahrer-und-Spedition-Gefälligkeiten-und-Mafia-Sache aufschlagen und zum Abschluss bringen. Diese Zuversicht bescherte ihr eine kurze, aber ruhige Nacht.
10
Punkt acht Uhr am nächsten Morgen verließ sie ihre Wohnung. Einer lieb gewonnenen Gewohnheit folgend, blieb sie kurz vor der Haustür stehen und schenkte der Kaiserburg den ersten langen Blick des Tages. Sie sah zum Himmel – noch immer nieselte es. Hinter ihr lagen beruflich turbulente Tage sowie zwei unerbittliche Wochen ohne Sonnenschein. Vor ihr die Aussicht, demnächst unter Trommen zu arbeiten. Sie beschloss, das alles heute zu ignorieren und nur den Fall Kramer zu Ende zu bringen.
Als sie am Fembo-Haus vorbeilief, ging ihr Kramers verwüstetes Büro durch den Kopf, dann das Wasserwerk mit dem toten Shengali davor. Was für ein Unterschied! Hier kalkuliertes Arrangement, da besinnungslose Raserei, hinter der sie die Wut, ja mehr noch: den Zorn des Täters spürte. Und doch hatten beide Verbrechen eine Klammer, die sie zusammenhielt: den Zigarettenschmuggel. Davon war sie überzeugt. Der Auslöser war derselbe, trotzdem war Kramer aus einem anderen Grund umgebracht worden als Shengali.
Hinter dem Tod des Agenturchefs spürte sie, die jetzt sinnierend neben dem Eingangsportal des alten Rathauses stehen geblieben war, einen tief verletzten, mörderischen Ehrbegriff. Und diesmal hatte sie das Gefühl, dass sie mit ihrer Ahnung richtig lag.
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