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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Autoren: Kathrin Schmidt
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Mundwinkeln, durch die man eine doppelte Sehne gefädelt und die Schlaufe hinter den Ohren herumgeführt hat. Jetzt merkt sie endlich, dass sie keine Brille aufhat.
Bille , sagt sie laut, Bille .
Noch immer kein R.
Billebillebillebillebillebillebille.
Das hat nicht sie gesagt, sondern die Frau.
Die Schwester kommt, um sich mit der Frau bekannt zu machen.
Guten Tag, Frau Schröder!
Frauschröderfrauschröderfrauschröder!
Warum wiederholt die Frau, was die anderen sagten? Hat das mit Echolalie zu tun?
Sie ist heilfroh, dass ihr manchmal Fremdwörter zur Verfügung stehen.
Außerdem ist ihr vorhin eingefallen, was ihr die Töchter unters Kreuz ziehen sollten, als sie da waren: das Kopfkissen natürlich.
Sie packt das Kopfkissen mit der linken Hand und schiebt es zu einem dicken Knäuel auf.
Gute Nacht.

Gute Nacht war natürlich unpassend. Es ist erst Mittagszeit. Sie wird aus dem Schlaf gerissen und gefüttert. Noch immer mit Brei, aber der sieht nicht mehr so hellbraun aus wie die Sondennahrung. Heute ist es Kartoffelbrei. Sie schiebt den Kopf zur Seite, wenn die Schwester den Löffel in braune Soße getunkt hat. Verbundnetzsoße haben sie früher dazu gesagt. Die Schwester versteht erst beim dritten Mal, dass sie keine Soße will.
Warum hat sie ihr das eigentlich nicht gesagt?
Soße nicht!
Ich hab ja schon verstanden, lacht sie.
Schon?

In ihrem Schälchen fehlt die große hellblaue Pille. Das freut sie. So könnte es weitergehen. Seitdem die Pille fehlt, ist sie wiederum länger wach.
Heute hat man die Panzersperren aus dem Schädel gezogen. Sie hat nichts gemerkt. Es waren gar keine Panzersperren, sondern Metallklammern. Man scheint sie am Kopf operiert zu haben. Warum? Keine Ahnung. Als sie sich auf die Toilette schieben lässt, ist sie begierig auf einen Blick in den großen Spiegel. Bislang hat sie den nicht einmal bemerkt! Darüber wundert sie sich.
Das ist sie. Nichts zu deuteln. Auf der linken Schädelhälfte fehlen die Haare. Nein, das stimmt nicht ganz: Zwei, drei Millimeter sticht das neue Haar hervor. Eine feine rote Linie zieht sich vom Haaransatz in der Stirn in hohem Bogen bis vors Ohr. Beidseits der Linie von vielleicht fünfzehn Zentimetern Länge sind dicke rote Punkte zu sehen. Sie rühren von den Klammern her und erinnern an abgehackte Alleebäume, deren Stümpfe nur knapp aus dem Boden ragen. Ein Stumpf hat sich entzündet, er schmerzt.
Interessant, muss sie denken.
Broca-Aphasie, denkt es sie plötzlich.

Als Matthes kommt, versucht sie es. Sie versucht ihm zu sagen, dass sie Literatur über Aphasien haben möchte. Matthes sagt dazu nichts. Hat er sie nicht verstanden? Bestimmt ist es nicht zu verstehen.
Matthes trägt keinen Verband mehr über dem Auge. So jung sieht er aus! Die Zeitung hat er mitgebracht, sie will sie ihm begierig aus der Hand reißen. Zehnter August! Sie ist schon länger als einen Monat hier. Das ist nun wirklich nicht zu fassen.

Muss sie sich darüber wundern, dass sie relativ gut rechnen kann und sich immer wieder selbst Aufgaben stellt? Kopfrechnen übt? Ach was, sie beschließt, sich lieber nicht darüber zu wundern.
Stattdessen wartet sie. Darauf, dass irgendetwas passiert. Hier passiert nichts. Niemand kommt, um mit ihr herumzuturnen. Auf der Intensivstation hat die Dunkelhaarige sie mobilisiert. Das heißt, sie hat versucht, sie zu mobilisieren. Hier dagegen? Du liegst jetzt den dritten Tag hier auf der Inneren , hat Matthes vorhin gesagt, v öllig falsch . Er versucht offenbar, sie woandershin zu bekommen. Wohin, hat sie nicht verstanden.
Die Tür geht auf. Eine junge Frau kommt herein, stellt sich als Physiotherapeutin vor. Na endlich! Eben noch wäre ihr das Wort »Physiotherapeutin« nicht eingefallen, aber in dem Moment, da die Frau es ausspricht, ist es wieder verfügbar. Sie möchte Wörter hören. Stattdessen packt sie die Physiotherapeutin in den Rollstuhl und fährt sie hinaus, hinunter, über den Hof, in ein andres Haus. Sie kommen in einem großen Sportraum an.
Sie müssen unbedingt hierher verlegt werden!, sagt die Physiotherapeutin.
Was ist hier?, fragt sie. Ui, es geht!
Strouk junit , sagt die Frau.
Was ist das?
Noch ehe die Frau antworten kann, fällt es ihr ein. Natürlich, die stroke unit für Schlaganfallpatienten! Was soll sie denn unter Schlaganfallpatienten anfangen? Ungläubig schaut sie die Physiotherapeutin an.
Die sagt, dass sie auf Drängen ihres Mannes auf die Innere gerufen worden sei, um sie zu beturnen. Dass das auf der stroke unit
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