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Du oder das ganze Leben

Titel: Du oder das ganze Leben
Autoren: S Elkeles
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dafür, dass ich den Drang verspüre, es anzugucken. Ich habe schon so oft versucht, mich zu zwingen, die Bilder zu löschen, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber ich kann es nicht.
    Ich greife in die Schublade meines Schreibtisches und ziehe Alex’ Bandana hervor. Es ist frisch und sauber und zu einem Viereck gefaltet. Ich berühre den weichen Stoff und erinnere mich, wie Alex es mir gegeben hat. Für mich repräsentiert es nicht die Latino Blood. Es repräsentiert Alex.
    Mein Handy klingelt und katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Es ist jemand von Sunny Acres. Als ich drangehe, höre ich am anderen Ende eine Frauenstimme.
    »Spreche ich mit Brittany Ellis?«
    »Ja.«
    »Hier ist Georgia Jackson, von Sunny Acres. Shelley geht es gut, sie wollte nur wissen, ob Sie vor oder nach dem Abendessen kommen.«
    Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. Es ist halb fünf. »Sagen Sie ihr, ich bin in einer Viertelstunde da. Ich gehe jetzt los.«
    Nachdem ich das Gespräch beendet habe, lege ich das Bandana in die Schublade zurück und werfe das Handy in meine Handtasche.
    Mit dem Bus ans andere Ende der Stadt zu fahren dauert nicht lange und schon gehe ich auf die Eingangshalle von
Sunny Acres zu, wo meine Schwester laut der Empfangsdame auf mich wartet.
    Ich sehe Georgia Jackson zuerst. Sie war die Verbindung zwischen Shelley und mir, als ich alle paar Tage angerufen habe, um zu fragen, wie es ihr geht. Sie begrüßt mich mit einem freundlichen und warmherzigen Willkommen.
    »Wo ist Shelley?«, frage ich und blicke mich suchend um.
    »Sie spielt mal wieder Dame«, sagt Georgia und deutet in eine Ecke. Shelley sitzt abgewandt von mir, aber ich erkenne ihren Hinterkopf und ihren Rollstuhl.
    Sie quietscht freudig, was ein Hinweis darauf ist, dass sie das Spiel gewonnen hat.
    Als ich näher komme, erhasche ich einen Blick auf die Person, die mit ihr spielt. Das dunkle Haar hätte mich darauf vorbereiten müssen, dass mein Leben jeden Moment Kopf stehen würde, aber ich begreife nicht sofort. Und dann bin ich wie gelähmt.
    Es kann nicht sein. Meine Fantasie muss mir einen Streich spielen.
    Aber als er sich umdreht und sein Blick in meinen taucht, durchfährt mich die Realität wie ein Blitz.
    Alex ist hier. Zehn Schritte entfernt von mir. Oh Gott, alle Gefühle, die ich je für ihn empfunden habe, kommen mit aller Macht zurück und erfassen mich wie eine Flutwelle. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Ich drehe mich zu Georgia um, weil ich mich frage, ob sie wusste, dass Alex hier ist. Ein Blick in ihr hoffnungsvolles Gesicht verrät mir alles, was ich wissen muss.
    »Brittany ist hier«, höre ich ihn zu Shelley sagen, bevor er aufsteht und ihren Rollstuhl behutsam umdreht, damit sie mich sehen kann.
    Ich gehe auf meine Schwester zu wie ein Roboter und umarme
sie fest. Als ich sie loslasse, steht Alex direkt vor mir. Er trägt khakifarbene Chinos und ein blaukariertes Hemd. Ich starre ihn sprachlos an, mein Magen ist in Aufruhr und mir ist schwindelig. Um mich herum verschwimmt alles, bis ich nur noch ihn wahrnehme.
    Endlich finde ich meine Stimme wieder. »A-Alex …? W-was machst du hier?«, frage ich stotternd.
    Er zuckt mit den Schultern. »Ich hatte Shelley eine Revanche versprochen, oder?«
    Wir stehen hier und starren einander an. Eine unsichtbare Macht hindert mich daran, den Blick abzuwenden. »Du bist den ganzen Weg nach Colorado gekommen, um Dame mit meiner Schwester zu spielen?«
    »Na ja, das ist nicht der einzige Grund. Ich gehe hier aufs College. Mrs P. und Dr. Aguirre haben mir geholfen, den Abschluss zu machen, nachdem ich aus der Gang ausgestiegen bin. Ich habe Julio verkauft. Und ich habe einen Job als studentische Hilfskraft ergattert und einen Kredit aufgenommen.«
    Alex? Am College? Die Ärmel seines Hemdes, die sorgfältig an den Handgelenken zugeknöpft sind, verbergen die meisten seiner Latino-Blood-Tattoos. »Du bist ausgestiegen? Du hast doch gesagt, das sei zu gefährlich. Du hast gemeint, die Leute, die es versuchten, würden dabei sterben.«
    »Ich bin auch fast draufgegangen. Wenn Gary Frankel nicht gewesen wäre, stünde ich heute wahrscheinlich nicht hier …«
    »Gary Frankel?« Der netteste Horst der Schule? Jetzt erst sehe ich mir Alex’ Gesicht genauer an und entdecke eine blasse, neue Narbe über seinem Auge und ein paar üble an seinem Ohr und Hals. »Oh Gott! W-was haben sie m-mit dir gemacht?«
    Er nimmt meine Hand und legt sie auf seine Brust. Seine Augen sind
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