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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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Hand und
wechselten die üblichen Begrüßungsfloskeln, während wir einander taxierten. Er
war Anfang fünfzig, mit dunklem Haar und dunkelbraunen Augen, und zwischen
seine Brauen hatte chronischer Missmut tiefe Furchen gegraben. Seine Züge waren
grob, die hohe Stirn durch einen seitwärts gekämmten schütteren Haarzipfel
aufgelockert. Er lächelte mich höflich an, ohne dass sich sein Gesicht
sonderlich aufgehellt hätte. Auf seiner Stirn glänzte ein Schweißfilm. Noch
immer stehend, zog er sein Sportsakko aus und warf es auf die Couch. Darunter
trug er ein dunkelgraues, kurzärmliges Polo-Hemd mit drei Knöpfen, von denen
der oberste offen stand. Dunkle Haare ringelten sich aus dem Halsausschnitt,
und seine Arme waren von einem dunklen Vlies bedeckt. Er hatte schmale
Schultern, und seine Armmuskeln waren dünne, unausgebildete Stränge. Ein
bisschen Krafttraining hätte er durchaus vertragen können, schon zum
Stressabbau. Er zog jetzt ein Taschentuch heraus und tupfte sich Stirn und
Oberlippe ab.
    »Ich möchte, dass sie mithört«, sagte
Lonnie jetzt zu Voigt. »Sie kann heute Abend noch die Akten durchgehen und
gleich morgen Früh anfangen.«
    »Von mir aus«, sagte Voigt.
    Die beiden setzten sich wieder. Ich
hockte mich mit untergeschlagenen Beinen in die eine Sofaecke, durch die
Aussicht auf einen Honorarscheck beträchtlich aufgemuntert. Ein Vorteil bei der
Arbeit für Lonnie ist, dass er Nassauer gleich ausfiltert.
    Lonnie wandte sich an mich, um eine
kurze Erklärung vorauszuschicken, ehe sie ihr Gespräch fortsetzten. »Der
Privatdetektiv, der bisher für uns gearbeitet hat, ist plötzlich gestorben — Herzinfarkt.
Morley Shine, kannten Sie ihn?«
    »Natürlich«, sagte ich betroffen, »Morley ist tot? Wann ist das passiert?«
    »Gestern Abend, so gegen acht. Ich war
übers Wochenende weg und bin erst nach Mitternacht zurückgekommen. Deshalb habe
ich es selbst erst heute Morgen telefonisch von Dorothy erfahren.«
    Morley Shine war in meiner Erinnerung
immer da gewesen, kein enger Freund, aber doch jemand, auf den ich in einer
Notlage hätte zählen können. Er und der Detektiv, der mich ausgebildet hatte,
waren jahrelang Partner gewesen. Irgendwann hatten sie sich dann überworfen und
getrennt weitergemacht. Morley war Ende sechzig gewesen, groß und
krummschultrig, mit gut und gern achtzig Pfund Übergewicht, einem runden
Grübchengesicht, einem asthmatischen Lachen und gelben Fingern von den vielen
Zigaretten, die er rauchte. Er hatte seine Spitzel und Informanten in
sämtlichen Strafanstalten des Staates gehabt und jederzeit alle wichtigen
Informations-Pools der Gegend anzapfen können. Ich würde Lonnie später noch
genauer über seinen Tod ausfragen müssen. Vorerst jedoch konzentrierte ich mich
auf Kenneth Voigt, der sehr genau vorbereitet war und einen fliegenden Start
anstrebte.
    Er sah zu Boden, die Hände locker im
Schoß gefaltet. »Meine Ex-Frau wurde vor sechs Jahren umgebracht. Isabelle
Bar-ney. Sie erinnern sich an den Fall?«
    Der Name sagte mir nichts. »Ich glaube
nicht«, murmelte ich.
    »Jemand hat die Linse des Spions in
ihrer Haustür herausgeschraubt. Er hat geklopft, und als sie das Licht
anknipste und durchguckte, hat er eine Achtunddreißiger durch das Loch
abgefeuert. Sie war sofort tot.«
    Mein Gedächtnis sprang an. »Das war
Ihre Frau? Ich erinnere mich gut. Ist das wirklich schon sechs Jahre her?«
Beinahe hätte ich noch das einzige weitere Detail genannt, an das ich mich
erinnerte: dass es damals geheißen hatte, ihr Ehemann habe sie ermordet, mit
dem sie in Trennung lebte. Offenbar nicht Kenneth Voigt, aber wer dann?
    Ich sah Lonnie an, der meine Frage mit
übersinnlichen Antennen aufgefangen zu haben schien und prompt reagierte. »Der
Mann heißt David Barney. Er wurde freigesprochen, falls Sie das wissen
wollten.«
    Voigt rutschte in seinem Sessel hin und
her, als verursache ihm die bloße Nennung dieses Namens bereits Juckreiz.
»Dieses Schwein.«
    Lonnie sagte: »Erzählen Sie weiter,
Ken. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Wo sie schon hier ist, können Sie ihr
ja vielleicht ein wenig die Hintergründe erläutern.«
    Er schien ein paar Sekunden zu
brauchen, um sich wieder zu erinnern, wovon er eben gesprochen hatte. »Wir
waren vier Jahre verheiratet... beide in zweiter Ehe. Unsere Tochter ist jetzt
zehn und im Internat. Sie war vier, als Iz umgebracht wurde. Wir hatten
Probleme, Isabelle und ich... nichts Besonderes, aus meiner Sicht. Sie hat eine
Affäre mit
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