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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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das Nervensystem überhaupt Gelegenheit hatte, den Schmerz zu
registrieren, den eine solche Verletzung bedeuten würde.
    Es fällt schwer, sich das Vertrauen in
seine Mitmenschen zu bewahren, wenn man mit den Spuren ihres Wirkens
konfrontiert wird. Ich schaltete meinen Gefühlsapparat ab, während ich die
Röntgenaufnahmen und Fotos des Autopsieberichts studierte. Für meine Arbeit ist
es wichtig, dass ich, ohne mit der Wimper zu zucken, den Realitäten ins Gesicht
sehen kann, aber diese Distanzierung ist nicht ungefährlich. Wenn man sich oft
genug innerlich ausklinkt, riskiert man, irgendwann ganz den Zugang zu den
eigenen Gefühlen zu verlieren. Es waren insgesamt zehn Farbfotos, albtraumhaft
plastische Ansichten brutal zerfetzten Fleisches. Das heißt Tod, machte ich mir
klar. So sieht Mord in natura aus. Ich habe Mörder getroffen — nette,
sanfte, höfliche Menschen — , bei denen die Verdrängung so weit geht, dass man
sich nicht vorstellen kann, dass sie eine solche Tat begangen haben sollen. Die
Toten sind stumm, aber die Lebenden haben noch eine Stimme, um ihre Unschuld zu
beteuern. Oft sind ihre Beteuerungen laut und inbrünstig und unwiderlegbar, da
der einzige Mensch, der ihre Schuld bezeugen könnte, für immer zum Schweigen
gebracht ist. Vor mir lag Isabelle Barneys letzte Aussage, in der Sprache ihrer
tödlichen Wunde, ein erschütterndes Porträt absurder Zerstörung. Ich steckte
die Fotos wieder in den Umschlag und machte mich an eine Kopie der
Aufzeichnungen, die Dink Jordan Lonnie geschickt hatte.
    Dinks richtiger Name war Dinsmore. Er
selbst nannte sich Dennis, aber außer ihm tat das niemand. Er war in den
Fünfzigern, grau und langweilig, ein Mensch, dem sowohl Energie als auch Humor
und Eloquenz völlig abgingen. Als Staatsanwalt war er tüchtig, aber er hatte
keinen Sinn fürs Theatralische. Seine Vortragsweise war so langsam und
pedantisch, als läse er die gesamte Bibel durch ein Mikroskop. Ich hatte einmal
miterlebt, wie er in einem spektakulären Mordprozess ein Schlussplädoyer hielt,
bei dem zwei Schöffen einschliefen und zwei weitere vor Langeweile am Rand des
Komas vor sich hin dämmerten.
    David Barneys Anwalt war ein gewisser
Herb Foss, den ich gar nicht kannte. Lonnie behauptete, er sei ein Armleuchter,
aber man musste ihm immerhin zugute halten, dass er Barney rausgepaukt hatte.
    Es gab keine Tatzeugen, und die
Mordwaffe war nie gefunden worden, aber es lagen Beweise dafür vor, dass Barney
acht Monate vor dem Mord einen 38er Revolver erworben hatte. Er behauptete, die
Waffe sei am Labor-Day-Wochenende aus seinem Nachttisch verschwunden, als er
und seine Frau zu Ehren eines befreundeten Ehepaars aus Los Angeles, Don und
Julie Seeger, ein großes Abendessen gegeben hatten. Auf die Frage, warum er
damals nicht Anzeige erstattet habe, erklärte er, er habe mit Isabelle darüber
gesprochen, und es sei ihr peinlich gewesen, ihre Gäste in diese
Diebstahlsgeschichte hineinzuziehen.
    Beim Prozess hatte Isabelles Schwester
ausgesagt, die beiden hätten schon seit Monaten von Trennung gesprochen. David
Barney bestritt dagegen einen ernsthaften Bruch. Dennoch habe die Sache mit der
gestohlenen Pistole zu einem Streit geführt, der schließlich darin gipfelte,
dass Isabelle ihm sagte, er solle ausziehen. Was die Chancen der Ehe
anbelangte, gingen die Meinungen erheblich auseinander. David Barney
behauptete, die Beziehung sei stürmisch, aber stabil gewesen, und Isabelle und
er hätten versucht, ihre Differenzen auszuräumen. Außenstehende Beobachter
hatten offenbar eher den Eindruck gehabt, die Ehe sei tot, aber das mochte auch
Wunschdenken ihrerseits gewesen sein.
    Wie auch immer — die Situation spitzte
sich rapide zu. David Barney zog am 15. September aus und tat anschließend, was
in seiner Macht stand, um Isabelles Zuneigung wieder zu gewinnen. Er rief
ständig bei ihr an. Er schickte ihr Blumen. Er schickte Geschenke. Als sie sich
beschwerte, weil er sie mit Zudringlichkeiten verfolgte, statt ihr endlich Luft
zum Atmen zu lassen, verdoppelte er seine Bemühungen. Er hinterließ
allmorgendlich eine einzelne rote Rose auf der Kühlerhaube ihres Wagens. Er
deponierte Schmuckstücke auf ihrer Türschwelle, schickte ihr sentimentale
Karten. Je heftiger sie ihn zurückwies, desto verbissener traktierte er sie. Im
Oktober und November rief er Tag und Nacht bei ihr an, um sofort einzuhängen,
wenn sie abnahm. Als sie sich eine neue, nicht registrierte Nummer zulegte,
gelang es ihm, diese
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