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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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nur
als freier, sondern auch als reicher Mann. Später bekannten einige der
Geschworenen, sie hielten ihn mit großer Wahrscheinlichkeit für den Täter, aber
es sei der Anklage eben nicht gelungen, jeden vernünftigen Zweifel auszuräumen.
Lonnie Kingmans Absicht war es, durch die Erbschaftsanfechtung die Sache noch
einmal vor dem Zivilgericht aufzurollen, wo eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit der Schuld ausreicht und nicht nach der In-dubio -Formel
des Strafrechts verfahren wird. Soweit ich die Sache durchschaute, würde der
Kläger, Kenneth Voigt, trotzdem beweisen müssen, dass David Barney Isabelle
getötet hatte, und zwar vorsätzlich. Doch die Beschränkung des Schuldkriteriums
auf die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« würde in diesem Fall die
Beweisführung erleichtern. Hier stand nicht Barneys Freiheit auf dem Spiel,
sondern der materielle Nutzen, den er aus dem Verbrechen gezogen hatte. Falls
er Isabelle wegen ihres Geldes umgebracht hatte, würde ihm zumindest sein Profit
abgeknöpft werden.
    Ich merkte, dass ich schon zum dritten
Mal hintereinander gähnte. Meine Hände klebten, und ich war an dem Punkt, wo
meine Gedanken beim Lesen abzuschweifen begannen. Morley Shines Vorgehen war
ziemlich schlampig gewesen, und ich wurde richtig ärgerlich auf den armen Mann.
Es gibt nichts Ärgerlicheres als das Chaos anderer Leute. Ich ließ die Akten
liegen, wie sie lagen, verließ mein Büro und schloss die Tür ab. Ich trat
hinaus auf den Korridor des dritten Stocks und schloss hinter mir ab.
    Mein Wagen war der einzige auf dem
Parkplatz. Ich bog nach rechts ab und fuhr in Richtung Stadt, dann an der State
Street links ab und heimwärts, durch das menschenleere, gut beleuchtete Zentrum
von Santa Teresa. Die meisten Häuser sind hier nur zweistöckig, spanischer
Baustil der flachen Sorte, wegen der häufigen Erdbeben. Allein im Sommer 1968
gab es hier eine Serie von Sechsundsechzig Beben zwischen den Stärken 1,5 und
5,2 auf der Richter-Skala, wobei letzteres immerhin ausreicht, um die Hälfte
des Wassers aus dem Swimming-Pool schwappen zu lassen.
    Ich fühlte eine kurze Woge des
Bedauerns in mir aufsteigen, als ich an meinem alten Büro in der State Street
Nr. 903 vorbeifuhr. Inzwischen war dort sicher schon jemand anderes eingezogen.
Ich würde mit Vera, der Leiterin der Schadensabteilung bei der CF, reden
müssen, um in Erfahrung zu bringen, was sich in den letzten Wochen getan hatte.
Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie und Neil am Halloween-Abend
geheiratet hatten. Als Nebeneffekt meines Rausschmisses verlor ich den Kontakt
zu einer Menge Leuten, die ich kannte — Darcy Pascoe, Mary Bellflower. Die
Vorstellung, Weihnachten in meiner neuen Umgebung hinter mich bringen zu
sollen, erschien mir irgendwie seltsam.
    An der Kreuzung Anaconda Boulevard und
Highway 101 hätte ich um ein Haar die rote Ampel überfahren. Ich trat auf die
Bremse, stellte den Motor ab und wartete die vier Minuten, bis die Ampel wieder
grün wurde. Der Highway war völlig tot, nur leere Asphaltspuren nach beiden
Seiten. Endlich sprang die Ampel um, und ich schoss über die Kreuzung und bog
rechts ab, in den Cabana Boulevard, der parallel zum Strand verläuft, dann noch
einmal rechts in den Bay Boulevard und schließlich links in meine schmale,
baumgesäumte Straße, die aus Einfamilienhäusern und einigen wenigen
Mehrparteien-Gebäuden besteht. Ich fand einen Parkplatz zwei Häuser von meiner
Wohnung entfernt. Ich schloss den Wagen ab und musterte aus Gewohnheit die
dunkel daliegende Nachbarschaft. Ich bin um diese Zeit gern alleine draußen, auch
wenn ich mich bemühe, wachsam zu sein und angemessene Vorsicht walten zu
lassen. Ich öffnete die Gartenpforte, wobei ich sie anhob, um das Quietschen zu
vermeiden.
    Meine Wohnung war ursprünglich eine
Einzelgarage mit einem überdachten Gang zum Haupthaus, der später dann in einen
Wintergarten umgewandelt wurde. Der gesamte Anbau war nach einer
Bombenexplosion neu errichtet worden, und so besaß ich jetzt einen
Extra-Schlafraum und ein zweites Bad unterm Dach. Meine Außenbeleuchtung
brannte, eine Aufmerksamkeit meines Vermieters Heury Pitts, der nie zu Bett
geht, ohne aus seinem Fenster zu spähen, um zu sehen, ob ich auch heil wieder
zu Hause angelangt bin.
    Ich schloss hinter mir ab und
absolvierte meine abendliche Routine und verriegelte sämtliche Türen und
Fenster. Ich stellte mir zur Gesellschaft meinen kleinen Schwarzweiß-Fernseher
an, während ich aufräumte. Da ich
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