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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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würde mich gleich ganz erwischen.
    »Hey!«, sagte er. »Ich rede mit Ihnen.«
Ich hörte, dass er sich noch immer in der Gegend von Lonnies Büro befand. Der
Mann war eindeutig sauer.
    Ich versuchte, leiser zu atmen.
    Er schoss.
    Trotz des Flures und der Ecke zwischen
uns fuhr ich zusammen. Nummer acht. Wenn er wirklich nur acht Schuss hatte, war
ich fein raus. Hatte er neun, war ich geliefert. Wenn er erst einmal dahinter
kam, wo ich steckte, war ich eine leichte Beute. Es war zu spät, anderswohin zu
flüchten. Ich merkte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach, dieses flaue Gefühl,
das einen überkommt, bevor man ohnmächtig wird. Ich rieb meine Wange an meinem
Ärmel. Angst legte sich über mich in eisigen Schwaden, strich mein Rückgrat
entlang.
    Das Gefühl, gleich zu sterben, ist
gleichzeitig trivial und schrecklich, absurd und unendlich schmerzlich. Das Ich
klammert sich ans Leben. Das Selbst lässt los, bereit zum freien Fall, bereit,
sich davonzuschwingen. Wenn ich etwas bedauerte, dann die schlichte Tatsache,
dass ich nicht mehr mitbekommen würde, wie alles ausging. Würden William und
Rosie sich wirklich ineinander verlieben? Würde Henry neunzig werden? Würde
Lonnie das ganze Blut je wieder aus seinem Teppich kriegen?
    So vieles, was ich nicht gemacht hatte.
So vieles, was ich nie mehr würde machen können. Blöd, einfach so zu sterben,
aber auf der anderen Seite, warum nicht?
    Ich holte zwei Mal tief Luft, versuchte
mit aller Kraft, klar im Kopf zu bleiben. Draußen in der kleinen Diele,
ziemlich nah, hörte ich David Barneys Stimme. »Kinsey?« Er sah in die Küche,
genau wie ich es eben getan hatte, und sah, dass es dort kein Versteck gab.
Wahrscheinlich hatte er die Räumlichkeiten schon erkundet, während er auf mich
gewartet hatte. Ihm musste klar sein, dass nur noch der Kopierraum blieb. Ich
hörte sein flaches Atmen.
    »Hey. Sind Sie da drin? Jetzt wird sich
zeigen, wer von uns der größere Lügner ist. Habe ich noch einen Schuss, oder
habe ich keinen mehr?«
    Ich sagte nichts.
    »Und wie steht’s mit der Dame? Sie
behauptet, sie hat noch zwei. Lügt sie, oder sagt sie die Wahrheit?«
    Meine Hände zitterten so heftig, dass
ich die Pistole nicht ruhig halten konnte. Ich zielte in Generalrichtung Tür
und schoss.
    Sein »Oh« war schmerzerfüllt. Er gab
einen Summlaut von sich, der mir sagte, dass ich ihn getroffen hatte und dass
es wehtat. Gut. Jetzt waren wir zu zweit. Er schlurfte in den Raum. »Macht
neun«, sagte er. Seine Stimme klang grimmig und lächerlich und theatralisch. Er
veralberte mich. »Sind Sie bereit, aus diesem Leben zu scheiden?«
    »Bereit ist übertrieben, aber
überrascht wäre ich auch nicht.« Ich hielt die kleine Taschenlampe in der linken
Hand und drückte fest darauf. Sie gab nur ein klitzekleines Licht, aber es
reichte, dass ich ihn sehen konnte. »Und Sie?«, sagte ich. »Überrascht?« Ich
feuerte aus nächster Nähe auf ihn und studierte dann den Effekt.
    Es war sehr lehrreich. Wenn im Film auf
jemanden geschossen wird, haut es ihn entweder einen halben Meter zurück oder
er kommt weiter auf einen zu, als wäre nichts, raus aus der Badewanne, hoch vom
Fußboden, manchmal schon so durchsiebt, dass das Hemd rot gesprenkelt ist. In
Wirklichkeit ist es so: Wenn jemand getroffen wird, tut es höllisch weh. Das
konnte ich jetzt mit eigenen Augen verfolgen. David Barney blieb keine andere
Wahl, als mit dem Rücken an der Wand hinunterzugleiten und dazusitzen und über
das Leben nachzudenken. Auf seiner linken Brustseite bildete sich ein nassroter
Fleck, der sein Hemd ruinierte und seine Miene von blasierter
Selbstgefälligkeit in konsterniertes Starren umschlagen ließ.
    Ich musterte ihn einen Moment und sagte
dann: »Ich habe ja gesagt, ich habe zehn.«
    Aber es schien ihn nicht zu
interessieren. Ich rappelte mich auf die Füße, wobei ich einen klebrigen
Handabdruck auf dem Kopierer hinterließ. Ich ging hinüber zu der Wand, an der
er lehnte. Ich beugte mich hinunter und nahm ihm die Pistole ab, die er mir
widerstandslos überließ. Ich prüfte das Magazin. Eine Patrone steckte noch
darin. Sein Blick war jetzt leer, und seine Finger öffneten sich langsam, als
er sein Leben fahren ließ. Etwas, das mir vorkam wie eine Motte, flatterte ins
Dunkel davon. Ich humpelte hinaus auf den Flur und leuchtete mit meinem
Taschenlämpchen die Wand ab, bis ich den Feuermelder fand. Ich schlug die
Glasscheibe ein und zog den Hebel.

Nachwort
     
    Jetzt, da ich wieder sitzen
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