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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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unbeschilderten Ausgang zum Treppenhausflur waren
es etwa fünf Meter. Wenn ich diese Tür erreichte, konnte ich mich dort
hinducken, probieren, ob sie offen war, und dann... nichts wie raus. Prima
Plan. Ausgezeichnet. Ich musste nur bis dorthin kommen. Das Problem war, dass
ich Angst hatte, die Strecke ohne irgendeine Art von Deckung zu riskieren. Wo
war Ida Ruths Rollen-Schreibtischstuhl? Das könnte gehen...
    Ich streckte vorsichtig die Hand aus
und grabbelte auf dem Fußboden nach dem Stuhl. Ich berührte ein Gesicht. Meine
Hand zuckte zurück, und meiner Kehle entfuhr ein Laut, als ich nach Luft
schnappte. Da lag jemand auf dem Fußboden, gleich neben mir. Ich erwartete
schon, dass eine Hand auf mich zuschießen und mich packen würde, aber nichts passierte.
Ich streckte den Arm wieder aus und tastete. Fleisch. Ein schlaffer Mund. Ich
fühlte das Gesicht ab. Glatte Haut, kräftiges Kinn. Ein Mann. Für Lonnie war er
zu dünn, und dass es John Ives oder der dritte Anwalt Martin Cheltenham war,
glaubte ich nicht. Es konnte eigentlich nur Curtis sein, aber was zum Teufel
machte er hier? Er war noch warm, aber seine Wange klebte vor Blut. Ich legte
meine Hand auf seinen Hals. Kein Puls. Ich befühlte seinen Brustkorb. Er regte
sich nicht. Sein Hemd war vorne nass. Er musste von hier aus angerufen haben.
Wahrscheinlich hatte ihn jemand gleich danach erschossen, in Erwartung meines
Kommens. Dieser Jemand kannte mich besser, als ich gedacht hatte... gut genug,
um zu wissen, wo ich meine Pistole liegen hatte... gut genug, um zu wissen,
dass ich mich niemals zu einem abgelegenen Treffpunkt begeben würde, ohne
vorher hier vorbeizukommen.
    Ich tastete hinter mich und stieß auf
eine der robusten Rollen von Ida Ruths Stuhl. Ich blinzelte angestrengt ins
Dunkel, als mir plötzlich ein anderer Gedanke kam. Wenn ich ein
funktionierendes Telefon fand, konnte ich 911 wählen und es einfach nur bei der
Notrufzentrale klingeln lassen. Auch wenn ich nichts sagte, würde der Computer
meine Adresse anzeigen, und sie würden jemanden schicken, um nachzusehen.
Hoffte ich.
    Ich richtete mich so weit auf, dass ich
auf Knien über die Schreibtischplatte neben mir linsen konnte. Jetzt, da meine
Augen sich allmählich an das Dunkel gewöhnten, konnte ich verschiedene
Abtönungen unterscheiden: das dunkelanthrazitfarbene Rechteck eines Türrahmens,
die Quaderform eines Aktenschranks. Ich tastete mit der Hand über die
Tischplatte, ganz, ganz behutsam, um nur ja nirgends anzustoßen, bloß nichts
umzuwerfen. Ich fand das Telefon. Ich hob vorsichtig den ganzen Apparat an und
bugsierte ihn über die Schreibtischkante auf den Boden. Ich hob den Hörer ein
bisschen an und tastete mit dem Zeigefinger nach der Gabeltaste. Ich führte den
Hörer ans Ohr und ließ die Taste langsam los. Nichts. Kein Freizeichen. Kein Lämpchen.
    Ich spähte wieder über den Tisch und
versuchte, das Dunkel zu durchdringen. Keine Bewegung, keine schamhafte
Silhouette in Lonnies Tür.
    Ich zog langsam die Pistole aus dem
Hosengurt. Ich hatte die H&K noch nie in einem geschlossenen Raum
abgefeuert. Ich war mit Dietz noch ein paar Mal auf dem Schießstand gewesen,
ehe er abgereist war. Er hatte mich in allen möglichen Schusspositionen
gedrillt, bis ich mich geweigert hatte, mich noch länger von ihm
herumkommandieren zu lassen. Normalerweise achtete ich ziemlich gewissenhaft
darauf, im Training zu bleiben, aber in letzter Zeit war ich schlampig gewesen.
Zum ersten Mal ließ ich an mich heran, wie sehr mich die Trennung deprimiert
hatte. Vergiss es, Kinsey, reiß dich zusammen. Es war beruhigend, die Pistole
in der Hand zu spüren. Zumindest war ich meinem Gegner nicht wehrlos
ausgeliefert. Ich entsicherte.
    Ich hörte jetzt Atemgeräusche, aber es
konnten auch meine eigenen sein.
    Ich bereute, dass ich nicht in meinem
vergleichsweise sicheren Büro geblieben war. Mein Telefon hing an einem eigenen
Anschluss und funktionierte vielleicht noch. Wenn ich es schaffte, über den
Flur in mein Büro zurückzukommen, konnte ich wenigstens die Tür zuschließen und
den Schreibtisch davor schieben. Dann brauchte ich nur noch bis zum Morgen
durchzuhalten. Die Putzkolonne würde bestimmt schon früh kommen. Vielleicht
würde ich ja auch schon eher gerettet werden, wenn jemand auf die Idee kam,
dass ich hier war. Ich dachte an Jonah. Er würde beim Vogelschutzgebiet warten
und sich fragen, was los war. Was würde er tun, wenn ich nicht auftauchte?
Wahrscheinlich würde er denken, er
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