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Urod - Die Quelle (German Edition)

Urod - Die Quelle (German Edition)

Titel: Urod - Die Quelle (German Edition)
Autoren: Sarah Levine
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Kapitel 2
    Eine letzte Angelegenheit war noch zu erledigen, bevor alles enden würde.
    Wie ein Schwall Wasser brach die permanente Geräuschkulisse über sie herein, sobald ihre Konzentration nachließ. Ihr Gehör nahm selbst feinste Nuancen wahr. Stimmen, Verkehrslärm, Schritte, das Atmen und Schnaufen des Mannes vor dem Haus, der mit seinem Besen über den Asphalt schrabbte, das Säuseln des Windes, das Tänzeln der Blätter, die sanft den Boden berührten und wieder in die Luft stiegen, um sich gegenseitig zu necken.
    Das Knattern des Mofas - es war noch mehrere Kilometer entfernt. Sie zwang sich, sich zu konzentrieren, isolierte es und blendete alles andere aus. Nun hörte sie, wie es sich näherte, wie es Kurven nahm und die Geschwindigkeit verringerte, kurz abbremste und dann, wütend, wieder an Tempo gewann.
    Sie hörte Geräusche, von denen sie vorher gar nicht wusste, dass sie existierten. So vielfältig war das Leben auf dieser Erde. So wundervoll.
    Die anderen wussten es nicht. Sie verstanden nicht, dass sie sich inmitten eines paradiesischen Kaleidoskops der Sinneseindrücke befanden. Sie lebten dieses versperrte, verrammelte Dasein. Die überbordende Synästhesie ging einfach an ihnen vorbei. Sie rochen nicht, sie hörten nicht, sie sahen nicht.
    Alles hier war eins. Alles erzählte eine Geschichte. Alles bebte und war verbunden in einer solch bestürzenden Melodie, dass es einem die Tränen in die Augen trieb.
    Sie wollte das nicht verlieren, denn es erschien ihr so richtig. Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste sie. Das Suchen hatte ein Ende. Alles war da. Es war immer da gewesen, aber erst jetzt war sie in der Lage, es zu begreifen. Erst jetzt ergab alles einen Sinn.
    Doch schon bald würde auch sie diese Dinge nicht mehr zu schätzen wissen. Die Gleichgültigkeit hatte sie bereits befallen. Sie spürte sie herannahen wie das ferne Donnergrollen eines Gewitters, das immer näher kam.
    Das Empfinden ihres eigenen Körpers, der sich in einen fremden verwandelte, nahm mehr und mehr Raum ein. Sie hatte versucht es aufzuhalten. Bei Gott das hatte sie.
    Als es anfing, als sie es zum ersten Mal bemerkte, hatte sie sich in ihrer Verzweiflung ganze Hautlappen weggeschnitten. Doch es hörte nicht auf. Und ihre Wunden verheilten schnell. Viel zu schnell.
    Da wusste sie, dass auch sie verdammt war.
    Sie musste jetzt handeln. Denn ihre Verzweiflung wurde mit jedem Tag kleiner. Im selben Maß, in dem der Hunger wuchs. Er schwoll an zu einem reißenden Fluss, dessen wilde Strömung sie mit sich fort trug. Diese hysterische Gier, alles zu verschlingen, was ihr zwischen die Finger kam. Sie konnte sich immer seltener zähmen. Das widerte sie an. Sie kämpfte dagegen. Kämpfte und verlor doch viel zu oft. Der Hunger würde alles verdrängen. Würde ihr Lebensinhalt sein. Nicht mehr lange und es wäre ihr egal, was aus ihr geworden war. Nicht mehr lange und nichts anderes hätte noch Bedeutung. Nichts als Nahrung.
     

    Das Dröhnen des Mofas draußen auf der Straße wurde sehr laut und erstarb kurz darauf. Sie hörte ein dumpfes Schnappen, dann ein Klappern - der Pizzakurier nahm die Pizza aus einem Behältnis. Das Knirschen seiner Lederjacke verriet ihr, dass er den Arm ausstreckte, um zu klingeln. Sie kam ihm zuvor, drückte den Türsummer und flüsterte "Zehnter Stock". Ihre Kehle war ein raues, kratziges Stück Sandpapier.
    Dann das monotone, mechanische Summen des Aufzugs. Als der Kurier den Flur ihres Stockwerks betrat, war es nicht der Pizzageruch, der sie überwältigte. Es war seiner. Es war ein junger Geruch. Ein männlicher Geruch. Sie roch das Nikotin und den Teer auf seinen Händen, nahm den Uringestank seiner Unterhose wahr, seinen Schweiß, den Knoblauchdunst seines Atems, den süßlich-fauligen Geruch seiner Füße, so durchdringend wie der eines überreifen Apfels. Und den zarten, unendlich feinen Geruch seines festen, jungen Fleisches.
    Hastig verkroch sie sich im dunkelsten Schatten des Raumes. Alles lag bereit. Der Draht. Die Benzinkanister. Polly miaute in ihrem tragbaren Käfig. Sie miaute so kläglich. Es brach ihr das Herz. Und dennoch regte sich da noch etwas in ihr. Ein Verlangen, das sie immer noch erschreckte. Sie anekelte.
    Sie atmete den Geruch der Katze ein. So verführerisch. Ihre Hand bewegte sich langsam in Richtung des Käfigs. Die Katze fauchte ängstlich.
    Im gleichen Moment klopfte es an der Tür.
    „Komm rein, es ist offen!“ flüsterte sie so laut sie konnte. Trotz des
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