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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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schien.
    »Was ist los?«, fragte er.
    »Ich störe dich wirklich ungern, Babe,
aber ein kleiner Ganove namens Curtis McIntyre hat gerade bei mir angerufen und
mich gebeten, so schnell wie möglich ins Vogelschutzgebiet zu kommen, um mit
ihm zu reden. Ich vermute, jemand hat ihm eine Pistole an die Schläfe gehalten.
Ich brauche Rückendeckung.«
    »Hast du eine Ahnung, wer bei ihm ist?«
    »Das weiß ich noch nicht, und die Sache
ist zu kompliziert, um sie dir am Telefon zu erklären.«
    »Hast du eine Waffe?«
    »Die liegt in meinem Büro in Lonnie
Kingmans Kanzlei. Ich will noch schnell hinüberfahren, um sie zu holen. Das
dauert höchstens fünfzehn Minuten, dann sause ich hinunter zum Strand. Kannst
du mir beistehen?«
    »Na ja, ich glaube schon.«
    »Ich würde ja jemand anderen bitten,
aber mir fällt niemand ein.«
    »Schon gut«, sagte er. »Ich bin in
fünfzehn Minuten da. Ich fahre ein Stück weiter und komme dann zu Fuß zurück.
Dort unten gibt es jede Menge Deckung.«
    »Das ist es ja gerade, was mir Sorgen
macht«, sagte ich. »Pass auf, dass du nicht über die Kerle stolperst.«
    »Keine Bange. Ich kann solche Typen
riechen. Bis gleich.«
    »Danke«, sagte ich. Dann legte ich auf.
    Ich schnappte mir meine Umhängetasche
und meine Jacke mit den Wagenschlüsseln und klopfte mir innerlich auf die
Schulter, weil ich so umsichtig gewesen war, den VW noch voll zu tanken. Das
bisschen Zeit, das mir blieb, würde ich brauchen, um zuerst zum Büro und von
dort aus wieder zurück zum Vogelschutzgebiet zu fahren. Wer immer bei Curtis
war — er würde sehr gereizt reagieren, wenn ich nicht pünktlich auftauchte. Ich
fuhr schneller, als es das Gesetz erlaubte, hielt aber mit einem Auge im
Rückspiegel Ausschau nach getarnten Polizeiwagen. Ich konnte nur hoffen, dass
ich die Pistole gleich finden würde. Ich war schließlich erst vor fünf Wochen
umgezogen und hatte meinen Kram in hastig gepackten Kartons von der California
Fidelity zu Lonnie Kingmans Kanzlei geschleppt. Die Pistole hatte ich nicht
mehr gesehen, seit ich sie im Mai erstanden hatte. Ich hatte die Notwendigkeit
zuerst nicht einsehen wollen, aber ich wusste, dass jemand meinen Namen ganz
oben auf seiner Abschussliste stehen hatte. Als ich dann kapiert hatte, dass
ich Hilfe brauchte, war ein Privatdetektiv namens Robert Dietz in mein Leben
getreten. Nachdem ich mich erst einmal der Tatsache gestellt hatte, dass mein
Leben in akuter Gefahr war, hatte ich endgültig jeden gut-staatsbürgerlichen Ehrgeiz
fallen lassen. Dietz hatte darauf bestanden, dass ich mir statt meiner 32er
Davis eine Heckler & Koch zulegte. Das verdammte Ding hatte mich ein
Vermögen gekostet. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, war ich mir auch gar nicht
mehr sicher, wo die Davis steckte.
    Ich ließ den Wagen vor der Kanzlei auf
der Straße stehen und verstaute meine Umhängetasche unter dem Fahrersitz. Es
war so gut wie niemand unterwegs, und alle umhegenden Bürogebäude waren schon
dunkel, verrammelt und verriegelt. Ich ging durch die dunkle Toreinfahrt nach
hinten zu dem kleinen Parkplatz. Lonnies Mercedes war nicht zu sehen, aber aus
seinem Büro oben im dritten Stock fiel Licht auf den Asphalt. Na, wunderbar. Er
war wieder da. Ich hatte zwar jetzt nicht die Zeit, ihm alles zu erklären, aber
es würde sicher nicht schwer sein, ihn dazu zu bringen, mich zu begleiten.
Trotz seines ganzen professionellen Habitus ist Lonnie im Grunde seines Herzens
ein Draufgänger. Die Aussicht, im Dunkeln durch die Büsche zu schleichen, würde
ihn sicher begeistern.
    Ich arbeitete mich mit Hilfe des
kleinen Taschenlämpchens an meinem Schlüsselbund das stockfinstere Treppenhaus
hinauf. Im dritten Stock schien das Licht, das Lonnie vorne in der Anmeldung
angemacht hatte, auf den Flur hinaus. Ich ging am Vordereingang vorbei und nahm
die Abkürzung durch die nicht beschilderte Tür. Ich sah kurz nach rechts zu
Lonnies Tür, die gleich neben meiner lag.
    »Hey, Lonnie? Geh nicht weg. Ich
brauche deine Hilfe. Ich komm gleich rüber und erzähl’s dir.«
    Ich öffnete, ohne auf Antwort zu warten,
meine Tür und knipste das Licht an. Mein Büro hatte früher einmal als Teeküche
für das Personal gedient, und die ehemalige Speisekammer war jetzt mein
Wandschrank. An der hinteren Wand standen fünf Kartons übereinander, alles
Dinge, die ich hier offensichtlich noch nicht gebraucht hatte. Ich konnte mich
nicht einmal erinnern, was da drin war. Es gibt Leute, die sagen, wenn man zwei
Jahre nach
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