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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht
Autoren: Sue Grafton
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einem Umzug noch eine unausgepackte Kiste hat, sollte man am besten
die Heilsarmee anrufen und das verdammte Ding abschleppen lassen. Ich hatte
ganz umsichtig auf jeden der Kartons »Bürokram« geschrieben. Ich zerrte jetzt
einen hervor, riss das breite braune Klebeband ab und fummelte die
Deckelklappen auf. Diese Kiste enthielt meine sämtlichen Einkommenssteuerunterlagen.
Ich versuchte es mit der nächsten und stieß auf Rechnungskram. Ah, da. Die
Heckler & Koch lag ganz obenauf, noch in ihrem Kästchen, die zwei
Schächtelchen mit Winchester Silvertips gleich darunter.
    Ich setzte mich auf den Boden und
packte die Pistole aus. Ich nahm ein Munitionsschächtelchen heraus, öffnete es
und entfernte das kleine, weiße Styroporpolster. Dann lud ich eine Patrone nach
der anderen ins Magazin. Als Dietz und ich endlich im Waffengeschäft gestanden
hatten, war der nächste erbitterte Streit um die Frage entbrannt, welches
Modell ich nehmen sollte: die P7 mit neun Schuss oder die P9S mit zehn. Jeder
darf drei Mal raten, welche teurer war. Ich war sowieso schlechter Stimmung
gewesen, unkooperativ und stur. Die P7 sollte schon über dreizehnhundert Dollar
kosten. Ich hatte an der P9S bekrittelt, sie sei mir viel zu sehr Kanone. Damit
meinte ich natürlich, zu teuer, was Dietz auch gleich haarscharf erriet.
    Ich hatte gesagt: »Verdammt. Manchmal
kann ich doch wohl auch meinen Kopf durchsetzen.«
    »Du setzt deinen Kopf sowieso öfter
durch, als gut ist«, hatte er gesagt. Jetzt wünschte ich, er hätte ein paar Mal
mehr die Oberhand behalten, vor allem in der Frage, ob ich mit nach Deutschland
gehen sollte...
    Das Licht in meinem Büro ging plötzlich
aus, und ich saß im Stockdunkeln. Das Büro hatte kein Außenfenster, und ich sah
daher nicht mehr die Hand vor Augen. War Lonnie einfach gegangen? Vielleicht
hatte er mich ja nicht kommen hören, dachte ich. Ich schob das Magazin in die
Waffe und schlug es mit der flachen Hand hinein. Wenn man sich im Dunkeln
zurechtfinden muss, gilt das Gleiche wie bei der Flucht aus einem brennenden
Gebäude: Man halte sich möglichst in Bodennähe. Ich steckte die Knarre in
meinen Hosengurt und krabbelte ohne Rücksicht auf meine Würde zur Tür. Das war
allemal besser, als gegen die Möbel zu rumpeln, aber es würde nicht sehr
beeindruckend aussehen, wenn das Licht plötzlich wieder anginge. Meine Bürotür
stand offen, und ich spähte in den Flur hinaus. Sämtliche Lichter in der
Kanzlei waren erloschen. Was zum Teufel hatte er gemacht, mit einer Gabel in
der Steckdose gebohrt? Alles lag in tiefem Dunkel. Ich sagte: »Lonnie?«
    Stille. Wie hatte er nur so schnell
verschwinden können?
    Ich hätte schwören können, dass da eben
ein leises Geräusch in der Gegend von Lonnies Büro gewesen war. Ich hatte das
Gefühl, dass ich nicht allein war. Es war so ruhig in der Kanzlei, dass die
Stille von sonst nicht hörbaren Geräuschen zu schwirren schien. Trotz der
nachtschwarzen Finsternis schloss ich die Augen, in der Hoffnung, besser hören
zu können, wenn ich meinen Gesichtssinn ausschaltete. Ich ging in die Hocke und
kauerte in meiner Tür, genau gegenüber von den beiden Schreibtischen, wo
tagsüber Ida Ruth und eine weitere Sekretärin namens Jill ihren Platz hatten.
    Wer war noch da? Und wo? Nachdem ich
nun schon zwei Mal meine glockenhelle Stimme hatte erschallen lassen, wussten
mit Sicherheit alle Beteiligten, wo ich mich befand. Ich duckte mich tief und
robbte los, in Richtung der Lücke zwischen den beiden Schreibtischen jenseits
des drei Meter breiten Flures.
    Jemand schoss. Der Knall war so laut,
dass ich einen Satz machte wie eine Katze, eine dieser wundersamen Bewegungen,
bei denen sich alle vier Gliedmaßen gleichzeitig vom Boden zu lösen scheinen.
Adrenalin schoss durch meine Adern. Ich merkte nicht, dass ich schrie, bis ich
es hörte. Das Herz hämmerte mir im Hals, und meine Hände kribbelten von der
plötzlichen Blutwallung. Ich musste mich nach vorne geworfen haben, denn ich
fand mich genau da wieder, wo ich hingewollt hatte, zusammengeduckt, die eine
Schulter gegen Ida Ruths Schubladenuntersatz gelehnt. Ich presste die Hand auf
den Mund, um das Atemgeräusch zu ersticken. Ich horchte. Der Schütze feuerte
offenbar aus Lonnies Büro, ein strategisch günstiger Punkt, weil er mir von
dort den Weg zur Anmeldung und zum Vordereingang abschneiden konnte. Es blieb
mir nichts als der Rückzug nach hinten, den breiten Flur hinunter, der jetzt
links von mir lag. Bis zu dem
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