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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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der ihrem Leben eine neue Richtung geben sollte, hörte Zainap in dem, was einmal die Küche ihrer Wohnung gewesen war und ihr nun, seit dem Brand im Stockwerk darüber, auch als Wohnzimmer diente, ihren Enkel im Nebenraum wimmern. Sie ging zu ihm und deckte ihn mit der Wolldecke zu, die, ohne dass er es gemerkt hatte, auf den Fußboden gerutscht war. Dass er über Schmerzen klagte, durfte sein, aber nicht über Kälte. Sie dachte an den Moment zurück, als sein Vater ihn ihr in die Arme gelegt hatte, damit sie ihn großzog. Als Fünfjähriger war Ruslan einmal mitten in der Nacht schreiend aufgewacht. Er hatte geträumt, etwas zu sein, was nicht in seinen Traum passte.
    »Wie meinst du das, etwas, das nicht in den Traum passt?«, fragte die Großmutter, um ihn zu beruhigen.
    »Was es sonst überall geben kann, nur nicht in meinem Traum. Deshalb musste ich schnell aufwachen, damit ich nicht verschwinde«, antwortete der kleine Ruslan.
    Morgen wird er nicht in den Bus steigen, nicht mehr zur Universität fahren. Sobald er wach ist, wird er erfahren, dass wir weggehen, dachte sie, während sie das Geld zählte, das sie gerade erhalten hatte. Sie nähte die Banknoten in ihren Rocksaum und packte.
    Nun, fünf Monate später, sitzt Zainap in dem inguschischen Flüchtlingslager vor dem Aluminiumtisch mit der grünen Plastikdecke, betrachtet ihr restliches Geld und überlegt, was sie ihrem Enkel sagen soll, damit er einsieht, dass er sie nicht nach Hause und in den Krieg zurück begleiten darf. Sie will ihn weit weg von hier wissen. Sie wird ihm erklären müssen, warum sie sich, noch bevor sie dazu aufgefordert wurde (weil sie krank ist), bei der Lagerverwaltung für die nächste Fuhre Flüchtlinge gemeldet hat, die repatriiert werden sollen, und das, nachdem sie ihn erst fünf Monate zuvor überredet hat, sich gegen alle Widerstände in umgekehrter Richtung, von Grosny nach Malgobek, auf den Weg zu machen, zumal sie an jedem Schlagbaum bezahlen und die Wachleute am Lagereingang bestechen musste, da ja die inguschischen Behörden neuen Flüchtlingen keine Zuflucht mehr gewährten. Sie hat Gott und den Teufel bestochen. Aber seit sie hier sind, denkt sie ununterbrochen daran, zu den Bombenangriffen, den Schießereien, den Minen, zu den Banditen und den Russen zurückzukehren. Es mag paradox klingen, doch nun, da sie die Flüchtlinge zwangsrepatriieren, will sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Sie will nur die Gewissheit haben, dass Ruslan nicht mitkommt, dass man ihn weit fortschafft vom Kaukasus und vom Krieg. Deshalb hat sie beschlossen, ihm die Geschichte von Anfang an zu erzählen, alle Geheimnisse zu enthüllen. Sie wird mit dem Verschwinden ihres Mannes Arstan während der Deportation im Winter 1944 beginnen. Sie wird dem Enkel erzählen, wie sein angeblicher Großvater in dem Zug nach Kasachstan verschwand, bevor ihr Sohn geboren wurde, ja noch bevor er gezeugt worden war. Das hat sie noch keinem Menschen erzählt. Nicht einmal Chakhban, der alles Recht der Welt hatte zu erfahren, wer sein Vater war. Über vierzig Jahre lang hat sie geschwiegen. Aber nun, bevor sie verschwindet, wird sie ihrem Enkel eine Geschichte über Mütter und Söhne erzählen. Und zum ersten Mal wird sie mit ihm auch über seine Mutter sprechen, von der er nichts weiß. Sie wird diese Geschichte erzählen, um Ruslan zu retten, um ihn dazu zu bringen, ohne sie von hier wegzugehen. Natürlich wird sie ihm nichts von dem Brief sagen, den sie vor drei Tagen geschrieben hat und am Vortag sogar hat abschicken können, trotz aller Sperren und Verbote, denn alles hat einen Preis. Das restliche Geld wird sie Ruslan geben. Er wird Oberst Egorow bezahlen müssen, der sich verpflichtet hat, ihn heil und unversehrt nach Petersburg zu bringen. Von nun an wird Zainap nichts mehr von dem Geld brauchen, das sie in den Rocksaum eingenäht hat, wo es, von Nadelstichen durchlöchert, schon ihren Körpergeruch angenommen hat.
    Ruslan schläft bis neun, als wollte er die Augen nicht aufmachen, als wüsste er, was die Großmutter ihm zu sagen hat und was das alles für seine Zukunft bedeutet. Er träumt von der ersten Nacht, die er mit Akif auf den verlassenen Zuggleisen in Grosny verbracht hat. Das Risiko, entdeckt zu werden, die Gefahr, Banditen als Zielscheibe zu dienen, gab ihnen das Gefühl, etwas Heldenhaftes und Rebellisches zu tun und alles, was sie in ihrer Jugend wegen des Krieges nicht erlebt hatten, auf einen Schlag nachholen zu können.
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