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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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hätten beschützen müssen, und sei es nur, um sich zu revanchieren. Aus nie geklärten Gründen nahmen die Föderalen ihn auf dem Weg zur Universität bei einer Straßensperre fest, an einem grauen Morgen, an dem Ruslan ausnahmsweise verschlafen und den Bus verpasst hatte. Seit zwei Monaten war sein Freund verschwunden.
    Ruslan erzählte Zainap allerdings nicht, was der Junge und er zusammen in den Trümmern der Medizinischen Fakultät erlebt hatten. Er bewahrte als Amulett eine Muschel auf, die er ihm geschenkt hatte, als sie sich wiederbegegnet waren. Bis zum Ende des ersten Tschetschenienkrieges wohnte Akif fünfhundert Meter von Ruslan und seiner Großmutter entfernt in einer ebenso großen Wohnung, nur dass er sie mit seinen Eltern und drei Geschwistern teilte. Sein Vater war ein Fälscher, ein begabter Zeichner, der in einer Notlage schwach geworden und für eine russische Bande Geldscheine gefälscht hatte. Zwei Jahre hatte er im Gefängnis gesessen, aber nachdem er seine Strafe verbüßt hatte, fand er nie wieder eine Stelle. Irgendwann begann er, sich seinen Lebensunterhalt mit dem Zeichnen von Porträts zu verdienen, doch nur von Menschen, die aus anderen Stadtteilen stammten und inkognito zu ihm kamen. In der Nachbarschaft wurde er wie ein Verbrecher behandelt. Niemand wagte, seine Wohnung zu betreten, weil man damit riskierte, ebenfalls als Verbrecher zu gelten. Als Kinder waren sich Ruslan und Akif auf der Straße oder beim Kaufmann begegnet, grüßten sich aber nicht. Niemand grüßte Akifs Familie. Alle kannten die Geschichte des Fälschers. Und zum Teil wegen des Schweigens und des Geheimnisses, das Akif umgab, fühlte Ruslan sich allmählich zu ihm hingezogen. Als er kurz vor Beginn des ersten Krieges zwölf Jahre alt wurde, wünschte er sich – nur um Akifs Zuhause betreten zu können – als Geburtstagsgeschenk ein Porträt, was seinen Vater in arge Verlegenheit brachte. Zainap überredete schließlich ihren Sohn, Ruslan von dem Fälscher porträtieren zu lassen. Akifs Vater hätten alle gern Modell gesessen, denn er war ein ausgezeichneter Porträtist, doch niemand wagte es. Lieber verzichteten sie auf ein Porträt, als dass man anschließend auf der Straße mit dem Finger auf sie zeigte. Zainap machte Chakhban klar, dass die Bitte seines Sohnes in erster Linie ein Beweis für Charakterstärke und Mut sei. An den drei Tagen, an denen er nach der Schule jeweils eine Stunde dem Fälscher Modell saß, nutzte Ruslan die Gelegenheit und sah sich in der Wohnung ganz genau um. Doch erst in der letzten Sitzung stellte er überrascht fest, dass auch Akif ihn aus einer Ecke des Wohnzimmers beobachtete, und dies vielleicht schon seit dem ersten Nachmittag. Das Porträt wurde bei den ersten Bombenangriffen im zweiten Tschetschenienkrieg zerstört.
    Kurz nachdem Akifs älterer Bruder entführt und ermordet worden war, zog die Familie des Fälschers, die bis dahin Ablehnung und Vorurteile in Würde ertragen hatte, in einen anderen Stadtteil, vermutlich in der Hoffnung, den anderen Söhnen das Schicksal des Ältesten zu ersparen, und Ruslan verlor Akif aus den Augen. Umso überraschter war er, als er ihn drei Wochen nach der Wiedereröffnung der Universität (oder was von ihr übrig war), auf dem Höhepunkt des zweiten Tschetschenienkrieges, in dem Bus zum Campus zu sehen glaubte und zu ihm ging. Seitdem waren sie unzertrennlich.
    Fragt man Tschetschenen, so werden alle sagen, dass es in Tschetschenien keine Homosexuellen gibt. Und vielleicht wurden Ruslan und Akif deshalb während der Monate, in denen sie sich in den Ruinen der Medizinischen Fakultät trafen, nicht gesehen. Weil sie unsichtbar waren. Wenn die Russen die wichtigsten Straßen der Stadt nicht vollständig sperrten, brachten vom Militär eskortierte Busse die Studenten aus dem Zentrum zum Campus, und obwohl es keine richtigen Vorlesungen gab, genügte es schon, dass sich eine Handvoll Studenten und Dozenten in den Anlagen vor dem halb zerstörten Gebäude oder in den ausnahmsweise mit Gas beheizten Räumen versammelte, um den Eindruck zu erwecken, dass trotz aller Hinweise auf das Gegenteil und des ringsum herrschenden Kriegschaos so etwas wie Normalität eingekehrt war. Während Studenten und Dozenten den Stoff ihrer jeweiligen Fächer diskutierten, trafen sich die beiden Medizinstudenten des ersten Jahres allein in den Trümmern eines zerbombten Seminarraums.
    Bei Anbruch der Dunkelheit, nachdem sie den überraschenden Besuch erhalten hatte,
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