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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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Bekannte noch Verwandte. Alle tot. Danach hatte sie die Stadt nie mehr verlassen. Während der schlimmsten Kämpfe hatte sie in den Außenbezirken Zuflucht gesucht, war aber immer ins Zentrum zurückgekehrt. Die Verschwundenen sollten wissen, wo sie zu finden war, falls sie irgendwann zurückkamen, und sei es nur als Geister.
    Nach dem Tod ihres Sohnes fehlte nur noch, dass man ihren Enkel entführte. Doch sie hätte keinerlei Entscheidung treffen können, wenn sie nicht, kurz nachdem sie den verletzten Ruslan nach Hause geholt hatte, den überraschenden Besuch erhalten hätte. Dieser Besuch bewog sie dazu, die zertrümmerte Stadt gegen ein Flüchtlingslager einzutauschen, als man die Flüchtlinge schon wieder zurückschickte. Die Frau, die zu ihr kam, wusste, wie man es schaffen konnte. Ein Fahrer, der für die Russen arbeitete, würde sie nach Inguschetien bringen. Und noch bevor sie das, was von ihrer Wohnung in Grosny übrig war, gegen ein acht Quadratmeter großes Zelt in einem inguschischen Lager eintauschte, war ihr klar, dass diese Entscheidung unumkehrbare Konsequenzen haben würde. Sie würde nicht die Kraft haben, wie der zurückzukommen. Würde die Stadt nie wiedersehen. Mit ihren achtundsiebzig Jahren, vom Krieg zermürbt, krank und ohne Medikamente, wäre es ihr lieber gewesen, in den Resten dessen zu sterben, was einmal ihr Zuhause gewesen war und noch wie durch ein Wunder zwischen Staub und verkohlten Ruinen existierte, als in einem fremden Land in einem elendigen Flüchtlingslager zu verkümmern. Aber jetzt ging es nicht um ihr Leben, sondern um das ihres Enkels. Schließlich bot sich ihr eine Gelegenheit, und die durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Das Lager war nur die erste Etappe. Natürlich sagte sie das ihrem Enkel nicht, als sie ihm mitteilte, dass sie sich auf den Weg machen würden. Was auch nicht nötig war. Sie brauchte ihm die plötzliche und scheinbar selbstmörderische Entscheidung nicht zu erklären. Das verstand sich von selbst. Ruslan war sensibel. Er wusste genau, dass in einem Flüchtlingslager zu enden das Letzte war, was die Großmutter sich wünschen konnte. Trotzdem wollte er mitgehen, und wenn es nur galt, ihr den letzten Wunsch zu erfüllen und so zu tun, als wisse er nicht, welches Opfer sie brachte, um sein Leben zu retten. Für nichts in der Welt hätte er sie verlassen und woanders auf eigene Faust sein Glück versucht. Er hätte sie nie allein in Grosny sterben lassen, auch wenn dies für beide das Einfachste und Vernünftigste gewesen wäre; so dachte Zainap, sprach es aber nicht aus. Zuneigung und Missstimmungen fanden zwischen ihnen gleichermaßen stillschweigend statt. Nachdem er in der Nacht verschleppt und am Nachmittag von seiner Großmutter freigekauft worden war, begriff Ruslan, dass er keine Ruhe mehr finden und dass sie nicht lockerlassen würde, bis er aus der Stadt war. Weitere zatchitski , sogenannte »Säuberungen«, und Verhaftungen würden folgen, bis an sein Lebensende. Die Russen kannten inzwischen den Weg zu ihnen. Selbst ihr, die sich so lange dagegen gesperrt hatte wegzugehen, war inzwischen vollkommen klar, was ihrem Enkel widerfahren würde, wenn er in der Stadt blieb und sie bis zu ihrem Tod begleitete. Sie würden beide sterben. Aber er war noch zu jung zum Sterben. Das Einzige, was er nicht ahnen konnte, aber auch nicht fragte, war, woher das Geld stammte, das es ihnen ermöglichte, die Stadt zu verlassen. Sie sagte, sie habe es über die Jahre gespart. Sie konnte nicht gut lügen. Ihr gesamtes Erspartes hatte sie ja schon dafür ausgegeben, ihn aus den Händen der Russen zu befreien. Und das hatte er sehr wohl begriffen.
    Gleich nachdem man ihn aus dem Bett geholt und durch Grosnys menschenleere, schlecht beleuchtete, mit Schlaglöchern übersäte Straßen verschleppt hatte, holte sie das für diese Situation zurückgelegte Geld heraus. Sie saß dort, wo einmal die Küche ihrer Wohnung gewesen war, und wartete darauf, dass die Sonne aufging. Nichts hasste sie so sehr wie die Vögel, die nach wie vor frühmorgens sangen, obwohl es keine Bäume mehr gab, als kündigten sie mit dem neuen Tag in den Kriegsruinen kommendes Unglück an. Sie hatte vorgesorgt. Wenigstens würde sie nicht verzweifelt von Tür zu Tür laufen müssen, um das Lösegeld zusammenzubekommen, so wie die Nachbarin aus dem dritten Stock für ihren Sohn Abdulah. Sie brauchte nur von den Russen zu verlangen, ihren Enkel am Leben zu lassen, und sobald sie wusste,
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