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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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die zahllosen Bestechungen stammt, das ihnen einen Platz im Lager verschafft hat und mit dessen Hilfe er nach Petersburg gelangen wird.
    Seit einiger Zeit trifft sie die wichtigsten Entscheidungen im letzten Augenblick, gegen alle Vernunft und immer allein. So war es auch, als sie vor fünf Monaten beschloss, Grosny zu verlassen. Nachdem sie sich so lange dagegen gewehrt hatte, beschloss sie, nach Inguschetien zu gehen, weil ihr das der einfachste Weg zu sein schien, obwohl sie wusste, dass in den Lagern keine neuen Flüchtlinge mehr aufgenommen wurden. Diese Entscheidung hatte sie getroffen, während sie im Dunkeln in der Küche dessen saß, was von ihrer Wohnung übrig geblieben war, in einem der wenigen Häuser, die in dem besonders stark bombardierten Stadtteil Leninski nicht vollkommen eingestürzt waren. Sie konnte Gewehrsalven in der Ferne hören. Abends schlief sie dabei immer gut ein, die Schüsse wiegten sie in den Schlaf. Sie zeigten an, dass die Gefahr nicht in der Nähe lauerte. Doch nun konnten sie bei Anbruch der Dunkelheit zum ersten Mal die Vorboten einer weiteren unruhigen Nacht sein. Seit ihr eine Stunde zuvor, als alles verloren schien, das Schicksal gelacht hatte, kam es ihr so vor, als könnte schon der kleinste Zwischenfall ihre Pläne bedrohen, so als wäre sie endlich aus einer langen Lethargie erwacht. In den Fenstern hatte sie dort, wo früher die Scheiben waren, blaue Plastikfolie anbringen lassen, die sie so gut wie möglich wenn nicht vor der Kälte, so doch wenigstens vor dem Wind schützte. Die Löcher in den Wänden waren mit Sandsäcken zugestopft und mit Pappe abgedeckt. Zainap zählte das Geld ab, Rubel und Dollar, das sie und ihr Enkel brauchen würden, um durch alle Kontrollen bis über die Grenze zu kommen, und legte rechts auf dem Tisch beiseite, was sie meinte zu benötigen, um im Lager aufgenommen zu werden. Sie konnte kaum glauben, dass es ein Zufall war. Das Geld war aufgetaucht, als sie überhaupt nicht damit rechnete und nachdem sie ihre gesamten Ersparnisse aus all den Jahren dafür aufgewendet hatte, ihren Enkel freizukaufen. Auf einmal war sie reich, vor allem wenn sie sich mit der Mehrzahl derer verglich, die sich noch in der Stadt befanden, weil sie nicht dafür zahlen konnten, dass man sie hinausließ. Es hatte lange gedauert, bis ihr klar wurde, dass sie wegmusste, und als es ihr endlich klar wurde, wusste sie nicht mehr, wie. Doch vor einer Stunde hatte das Glück ihr den Weg gewiesen.
    Sie zögerte, Feuer zu machen oder die Kerzen anzuzünden, aus Angst, damit Soldaten oder Räuber anzulocken. Jetzt hatte sie bei einem solchen unerwünschten Besuch viel mehr zu verlieren. Ruslan schlief in den Ruinen des Zimmers nebenan, das einmal das Schlafzimmer seines Vaters gewesen war. Sein Körper war mit Wunden übersät. Vier Stunden lang hatten sie auf ihn eingeprügelt. Dass er noch lebte, war ein Wunder.
    In der Nacht zuvor, es war noch nicht vier Uhr, war ein Kommando russischer Soldaten in das eingedrungen, was von Zainaps Wohnung in Leninski noch übrig war, und hatte Ruslan mitgenommen, allem Flehen der Großmutter zum Trotz, die sich an Stelle ihres Enkels anbot. Zainap weinte nicht mehr. Auch die Frauen aus der Nachbarschaft weinten nicht mehr. Nachdem sie Ruslan mitgenommen hatten, machte Zainap kein Auge mehr zu und wartete bis zum Sonnenaufgang, ehe sie die Sache in die Hand nahm. Es hatte keinen Sinn, während der Ausgangssperre etwas zu unternehmen. Sie wäre ein leichtes Ziel für die Schützen oben auf den Häusern. Würde schon tot zusammenbrechen, ehe sie um die nächste Ecke bog. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte und wann. Mit diesem Augenblick hatte sie so sicher gerechnet wie mit dem Tod. Sie hatte gewusst, über kurz oder lang würde sie ihren Enkel freikaufen müssen, wenn nicht von den bojewiki 2 , dann mit Sicherheit von den russischen Soldaten.
    Um zwei Uhr nachts hatten die »Föderalen« 3 im Gebäude eine zatchitska durchgeführt, wie ihre nächtlichen Säuberungen heißen, und Abdulah aus der Wohnung unter ihnen mitgenommen, während Ruslan und sie in den Ruinen des Stockwerks darüber, jeder in seinem Zimmer und Bett, sich nicht rührten und den Atem anhielten, obwohl es ihr in den letzten Monaten immer schwerer fiel, länger als fünf Minuten nicht zu husten. Vor knapp zwei Jahren war das oberste Stockwerk, gleich über dem, was von Zainaps Wohnung übrig geblieben war, zerstört worden. Das letzte Stockwerk war zusammen mit dem Dach
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