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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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als wenn der Gefangene bei einem Fluchtversuch einen der Rekruten tötet. Doch nichts dergleichen geschieht. Nach einer halben Stunde erreichen sie das Haus der Familie, irgendwo einsam in den Bergen. Mutter und Vater stehen schon draußen. Beim Anblick des älteren Sohnes zwischen zwei russischen Soldaten auf dem Rücksitz eines Jeeps beginnt die Mutter, in den anderen Fahrzeugen nach dem jüngeren Sohn zu suchen, und als sie ihn nicht findet, fängt sie an zu schreien. Der Vater hält sie fest, bevor sie sich auf die Scheibe des Jeeps, in dem der Sohn sitzt, stürzen und nach dem anderen fragen kann. Sie trägt ein schwarzes Kleid, eine schmutzige Schürze und ein schwarzes Kopftuch. Ihr Gesicht ist von Falten zerfurcht. Ihrem Aussehen nach könnte sie die Großmutter der eigenen Söhne sein. Der Mann tritt vor, während sie zitternd hinter ihm stehen bleibt und unverständliche Sätze sagt. Er ist ein großer, kräftiger Mann, mit einer Schaffellweste über dem schmutzigen Hemd. Seine Pumphosen stecken in Stiefeln mit hohem Schaft. Die beiden Gefreiten aus Jakowenkos Jeep steigen aus, ihre Gewehre auf den Bauern gerichtet, worauf dieser die Arme erhebt. Jakowenko steigt aus und geht auf ihn zu. Der tschetschenische Fahrer geht mit. Jakowenko fragt, wo die Waffen der Gruppe sind. Der Fahrer übersetzt. Der Sohn, der inzwischen, von einem Soldaten und einem Rekruten bewacht, ausgestiegen ist, schreit in diesem Augenblick etwas. Die Frau fällt laut weinend auf die Knie. Der Mann blickt hilflos zu ihr. Jakowenko schreit, die Frau solle aufhören zu schreien, aber sie hört nicht auf. Der Fahrer übersetzt, so gut er kann. Die Atmosphäre wird immer angespannter. Jeden Moment kann das Chaos ausbrechen. Man merkt dem Oberstleutnant seine Erregung an. Die Mutter steht schreiend auf und geht ins Haus, trotz Jakowenkos Schreien und den Bitten von Mann und Sohn, sie solle nicht gehen. Der Sohn reißt sich von Soldat und Rekrut los und läuft hinter der Mutter her. Ein Soldat schießt und trifft in seiner Nervosität den Sohn im rechten Bein, worauf dieser umfällt, während der Vater – bewacht von den Gefreiten, Jakowenkos Leibgarde, die verlangen, er solle den Mund halten – den Namen des Sohnes ruft. Die Mutter kehrt mit einer Flinte zurück. Sie schreit unaufhörlich. Es ist eigenartig. Als spräche sie Russisch. Andrej versteht jedes ihrer Worte, als wäre es seine Muttersprache. Er versteht, warum sie die Flinte geholt hat und wohin sie mit der Flinte im Anschlag gehen will. Er sieht, wie Jakowenko den Revolver hebt und auf die Frau zielt, doch bevor er abdrücken kann, schießt Andrej ihm in den Kopf. Der Oberstleutnant stürzt auf das spärliche Gras, und sekundenlang stehen alle wie erstarrt. Keiner weiß, wie er sich verhalten soll. Noch bevor sie begriffen hat, dass der Rekrut sie gerettet hat, bleibt die Frau wortlos auf halbem Weg zwischen Haus und Stall stehen, wo sie dem Geschöpf ein Ende machen wollte, das am selben Morgen geboren wurde und das ihr zufolge das ganze Unglück verursacht hat. Sowie sie das neugeborene Kalb erblickte, hat sie ihren Mann alarmiert, aber er hat nicht auf sie gehört. Das ist es, was sie ohne Unterlass schreit und was Andrej versteht, als wäre es seine eigene Sprache: Nur wenn sie diese Missgeburt töten, die einzig für die Kuh, die sie geboren hat, kein Monstrum ist, können sie dem Alptraum entrinnen, in den sie geraten sind. Die Erstarrung währt wenige Sekunden. Dann setzt das Geschrei noch lauter und noch verzweifelter ein. Ein Gefreiter und der Fahrer werfen sich auf den Leichnam des Oberstleutnants, während der andere Gefreite mit der Waffe auf den Bauern zielt. Die Soldaten setzen ihre Waffen an, wissen aber nicht, worauf sie zielen sollen. Die Frau läuft zum Stall. Mann und Sohn schreien auch und versuchen, sie zurückzuhalten. Keiner weiß, was sie mit Andrej machen sollen. Gleich nachdem er auf den Oberstleutnant geschossen hat, lässt er sein Gewehr fallen. Ihm zittern die Hände. Er ist nicht mehr in der Lage, etwas festzuhalten. Er greift mit der rechten Hand in die Tasche und umschließt eine Muschel. Der Soldat, der den Sohn ins Bein geschossen hat, hält als Einziger seine Waffe auf Andrej, hat aber nicht den Mut abzudrücken. Er ist sehr nervös. Im Stall fällt ein Schuss, und in diesem Augenblick, als gehorchte er einem Ruf, läuft Andrej zu der Frau. Plötzlich setzt der andere Rekrut zum ersten Mal seine Waffe ein und schießt. Andrej stürzt. Ohne
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