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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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Kronleuchter. Ich würde so gern seine Stimme noch einmal hören. Nach meiner Rückkehr aus Moskau bin ich eines Tages, bevor ich zum Komitee fuhr, bei der Wohnung vorbeigegangen, um dem Rekruten seinen Pass zu bringen. Das habe ich noch keinem Menschen erzählt. Ich habe mich nicht getraut. Als ich die Wohnung betrat, fragte eine Stimme von drinnen: ›Hast du Brot mitgebracht?‹ Aber es war niemand da. Es war nicht die Stimme des Rekruten. Da bin ich mir sicher. Ich bin eine Mutter, ich täusche mich nicht. Es war Pawels Stimme. Genauso, wie er in den letzten Tagen morgens immer gefragt hat, wenn ich mit dem Brot kam. Ich bin hineingelaufen, habe nach ihm gerufen, aber da war niemand. Glaubst du, das habe ich mir eingebildet? Glaubst du, es war nur, weil ich meinen Sohn noch einmal hören wollte? Seit er tot ist, führe ich jeden Abend Selbstgespräche.«

III. Epilog

23.
Zehn Tage zuvor
    D ie Fahrt durch den Wald war geräuschlos, was ihm umso bedrohlicher vorkam. Als das erste Fahrzeug des gepanzerten Konvois in die Schlucht hineinfuhr, rief jemand, es sei ein Hinterhalt, und noch bevor sie den Schrei, die Explosion hören konnten oder wussten, woher die Schüsse kamen – und erst recht nicht zurückweichen konnten –, schossen die Soldaten ziellos um sich und stürzten tödlich getroffen. Der erste Wagen war auf eine Mine gefahren und umgekippt, als er von einem Geschoss in die Luft gejagt wurde, das nur eine Haubitze oder eine Rakete sein konnte, so unwahrscheinlich und beängstigend dies auch unter diesen Umständen sein mochte. Im ersten Fahrzeug überlebte keiner. In allen anderen gab es Verletzte. Es war die erste Mission des Oberstleutnants Jakowenko in den Bergen nördlich von Vedeno, einem von der Wahhabiten-Guerilla kontrollierten Gebiet. Die Panzer, die außerhalb der Schlucht geblieben waren, um ihnen Deckung zu geben, konnten nicht viel tun. Mit den Panzern war dort kein Vorankommen. Sie hätten nicht so viel riskieren dürfen. Sie waren leichtsinnig gewesen. Arkadi Iwanowitsch Jakowenko befand sich seit acht Monaten in Tschetschenien, und zum Glück (oder zu seinem Pech und dem seiner Entourage) war er nie über die Stadtgrenze von Grosny hinausgekommen. Das hier war eine besondere Mission. Man hätte nicht fünf Fahrzeuge, dar unter die beiden Panzer, und zwanzig Männer in die Berge geschickt, hätte sie nicht einem so großen Risiko ausge setzt, wenn es nicht darum gegangen wäre, die Überlebenden aus dem abgeschossenen Helikopter zu bergen, in dem sich Oberst Ossipow befunden hatte. Die Überlebenden waren im Hochwald eingekesselt. Dass man einen Konvoi in ein vom Feind kontrolliertes Gebiet schickte, in dem die russischen Verluste beträchtlich waren, konnte nur bedeuten, dass man im Hauptquartier in Khankala verzweifelt war und um jeden Preis verhindern wollte, dass Wladimir Viktorowitsch Ossipow den bojewiki in die Hände fiel – was diese natürlich nur noch mehr anspornte, ihn zu fangen. Ossipow verfügte vermutlich über wichtige Informationen über die Pläne des russischen Militärs. Arkadi Iwanowitsch traute seinen Augen nicht, als auch das letzte Fahrzeug im Sperrfeuer explodierte. Ein Idiot schrie, man müsse zurück, aber dazu war es zu spät. Das erste und das letzte Fahrzeug des Konvois standen in Flammen. Ossipow hatte einen großen Fehler gemacht. Er hatte darauf bestanden, persönlich das Kommando über den Aufklärungsflug und die Bombardierung eines Zieles zu übernehmen, das er für eines der wenigen Ausbildungszentren auf tschetschenischem Gebiet hielt. Seinetwegen sollten hier zwanzig Männer sterben. Als der Belagerungsring sich zu schließen drohte, rief der Kommandeur etwas, und der Soldat neben Arkadi Iwanowitsch übermittelte ihm, was er nicht hatte verstehen können: dass sie sich im Wald verteilen sollten, wo jedes menschliche Wesen ein Feind ist. Sie hätten nicht die geringste Chance zu überleben, wenn sie zusammenblieben. Nur einzeln hätten sie die Chance, sich zu den Panzern durchzuschlagen. Als Arkadi diese Anweisung hörte, wurde ihm kalt ums Herz.
    »Das ist Selbstmord«, sagte er. Doch der Soldat hörte ihn nicht mehr. Er lag auf der Erde, Mund und Augen weit geöffnet.
    Er griff sich die Waffe des Soldaten und versuchte, sich zwischen den Felsen davonzustehlen. Als er den Wald erreichte, hallte der Satz des Soldaten noch in seinem Ohr nach: »Jedes menschliche Wesen ist ein Feind.« Ein Satz, der ihm übrigens nie mehr aus dem Kopf gehen sollte.
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