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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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dieser Welt gibt.«
    »Ich verspreche dir, dass ich mit dir in den Eispalast gehe, wenn CSKA gegen Spartak spielt.«
    »Ehrenwort?«
    Während Maxim sich ein Getränk kaufen geht, lauscht Anna, immer noch mit Sonnenbrille, im Warteraum verstohlen einem Grüppchen französischer Touristen, die sich wenige Meter von ihr unterhalten. Seit ihrer Heirat hat sie diese Sprache nicht mehr gesprochen, weil sie dafür keine Verwendung mehr hatte. Für sie ist Französisch inzwischen eine tote Sprache. Die Touristen unterhalten sich mit einer fröhlichen, lebhaft sprechenden Frau, deren Akzent Anna nicht identifizieren kann.
    »Nein, ich bin keine Russin, ich bin Brasilianerin«, sagt die Frau. »Ich habe als Studentin ein Jahr in Paris gelebt. Ob St. Petersburg mir gefallen hat? Wem könnte diese Stadt nicht gefallen? St. Petersburg ist wunderschön. Niemand spricht darüber, nicht wahr, aber offenbar gibt es hier auch viel Gewalt. Mir ist Gott sei Dank nichts passiert. Haben Sie nicht von dem Brasilianer gehört, der auf dem Markt überfallen wurde? Eine Freundin an der Botschaft in Moskau hat mir davon erzählt. Sie haben einen jungen Mann totgeprügelt. Spätabends, auf dem Markt. Genau an dem Tag, als ich in Russland angekommen bin, und ich muss schon sagen, dass mich das eigenartig berührt hat.«

22.
Sechs Monate später
    (April 2003, am Vorabend der
Dreihundertjahrfeier der Stadt)
    D ie Menschen machen die merkwürdigsten Dinge, um nicht allein zu bleiben«, sagt Julia und reicht Marina den Brief zurück, nachdem sie ihn gelesen hat. Sie sitzen im Café in der Rubinstein-Straße.
    »Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen. Er hat den Brief in der Wohnung zurückgelassen. Er hatte nichts mehr. Nichts, was er hätte zurücklassen können. Weder Kleider noch andere Sachen. Ich habe ihm gesagt, er könne Pawels Sachen anziehen. Und er hat den Brief vergessen«, sagt Marina und steckt ihn zurück in die Handtasche.
    »Vielleicht hatte er niemanden, an den er ihn hätte schicken können.«
    »Kann sein. Er war etwas eigenartig. Die Mutter hat gesagt, er führe Selbstgespräche.«
    »Vielleicht hat er nie jemanden gehabt und brauchte Liebe, um in Petersburg zu überleben, solange er wartete. Vielleicht hat er sich die Liebe eingebildet, weil er niemanden hatte, den er lieben konnte. Vielleicht hat er sich eine Liebesgeschichte ausgedacht, um allein überleben zu können …«
    Bevor sie den Gedanken weiterspinnen kann, bevor sie »wie ich« sagen kann, fällt Marina ihr gereizt ins Wort. Sie will nichts mehr hören.
    »Kann sein.«
    »Liebesgeschichten haben vielleicht manchmal keine Zukunft, aber eine Vergangenheit haben sie immer. Und deshalb klammern sich die Menschen an alles, was mit dem zu tun hat, was sie verloren haben. Historische Romane, Biographien, Memoiren, das alles muss als Rückblick geschrieben werden, sonst ergäbe es keinen Sinn. Kein Mensch will lesen, was geschehen wird, am Rande des Abgrunds. Die Menschen haben das Bedürfnis, sich an das zu klammern, was sie kennen. Die Modernismen konnten nicht andauern. Auch keine Revolution. Niemand baut sich am Rande des Abgrunds ein Haus.«
    »Vielleicht hast du recht.«
    »Wahrscheinlich möchte ich einen Jungen retten, auch wenn er nicht mein Sohn ist, damit sich später jemand an mich erinnert.«
    »Man versteht erst, wenn man für die Söhne anderer zu kämpfen beginnt. Mütter haben mehr mit Krieg zu tun, als sie sich vorstellen können. Es ist genau andersherum, als alle glauben. Ohne Mütter könnte es gar keinen Krieg geben. Niemand hat so große Angst vor einem Verlust wie eine Mutter. Um den Tod eines Sohnes zu verhindern, sind wir zu allem bereit, auch dazu, ihn gegen die Justiz zu verteidigen. Ein Sohn ist über jeden Verdacht erhaben. Eine Mutter ist sogar bereit, für einen Sohn zu töten. Und bekommt es dann in derselben Münze heimgezahlt, wenn ein Sohn im Krieg bleibt. Eine Mutter ist bereit, die Sippe und ihre Nachkommenschaft gegen alles zu verteidigen. Und will nicht sehen, dass daraus Kriege entstehen. Jeder Mensch hat eine Mutter. Auch der größte Idiot, der furchtbarste Folterknecht. Es ist fraglos eine gewisse Art von Fanatismus. Das habe ich erst begriffen, als ich anfing, anderer Leute Söhne zu verteidigen. Als ich meinen eigenen nicht habe retten können. Das Militär war hinter ihm her, sie wollten ihn wieder in den Krieg schicken. Und ich habe ihn alleingelassen. Als ich in die Wohnung kam, hing Pawel im Wohnzimmer am
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