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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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welchen Preis sie zahlen musste, so zu tun, als machte sie sich schleunigst auf den Weg, um das Geld bei Bekannten einzusammeln, bevor es dunkel wurde, und zwei Stunden später mit dem Betrag zurückzukommen. Nicht früher und nicht später, zwei geschlagene Stunden, das war die richtige Zeitspanne, wenn sie nicht riskieren wollte, dass sie zu spät kam, weil sie ihn inzwischen totgeschlagen oder ihn entweder in das Hauptquartier von Khankala oder in ein Filtrationslager verlegt hatten, von wo niemand bei lebendigem Leib zurückkam, und für die Leiche bezahlen musste, so wie bei Chakhban, aber auch nicht zu früh, so dass die Russen Verdacht schöpften, sie habe Geld im Haus versteckt, und mehr verlangten oder wiederkamen, um sie auszurauben.
    Zainap erkannte den Mann wieder, der vor dem Bezirksquartier des Militärkommandos in Leninski das Lösegeld kassierte; dorthin hatten sie Ruslan gebracht, wie man ihr gesagt hatte, als sie frühmorgens mit dem Geld in der Tasche das Haus verließ. Informanten gibt es überall. Und für alles muss man zahlen. Der Mann erkannte sie auch. Er hatte dichte, schwarze Augenbrauen und traurige, schräg nach unten weisende Augenwinkel. Wortlos sahen sie einander an. Zwanzig Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Der Söldner, der nun vor dem Quartier des russischen Militärs in Leninski den Frauen das Lösegeld für ihre Männer, Söhne und Enkel abnahm, war in der Schule, in der sie Russisch unterrichtete, als Ruslan geboren wurde, ihr Schüler gewesen. Der Junge mit Pomade im Haar und mittelmäßigen Zensuren war jetzt ein Erwachsener im Dienst der Föderalen. Wenn die in der Nacht Verhafteten das Glück hatten, die Verhöre zu überleben und nicht für eine weitere Befragung und Folterung nach Khankala transportiert zu werden, wurden sie, sofern ihr Lösegeld rechtzeitig gezahlt wurde, abends freigelassen. Als Zainaps ehemaliger Schüler das Geld von ihr entgegennahm, gab er ihr zu verstehen, obwohl nichts in seiner Miene Freundlichkeit, ja nicht einmal Wiedererkennen verriet, dass er sein Möglichstes tun werde, damit Ruslan früher freikam. Und sie sah darin eine Art von Dank. Um drei Uhr nachmittags hielt die pensionierte Lehrerin ihren Enkel lebend in den Armen.
    Eine Nachbarin aus dem Erdgeschoss, die sie mit ihm zurückkommen sah, half ihr, den Jungen die Treppe bis zum vierten Stock hinaufzubringen. Wenigstens hatten sie ihm keine Knochen gebrochen und ihn auch nicht verstümmelt, sagte Zainap, während sie Ruslan die Stufen hinaufschleppten. Das hatte man ihr im Krankenhaus Nummer 9 gesagt, wohin sie ihn mit Hilfe einer anderen Frau gebracht hatte, einer Unbekannten, die ihren Sohn erst am Abend zurückbekommen sollte, falls er nicht im Massengrab draußen vor der Stadt landete, wie so viele andere. Ruslan hatte nur Blutergüsse. Ihr blieb nichts anderes übrig, als dafür zu beten, dass er keine ernstere Verletzung oder gar innere Blutungen hatte. Sie musste ihn unter Beobachtung halten. Die Föderalen hatten wohl begriffen, dass Ruslan kein Separatist war, hatte Zainap zu der Krankenschwester gesagt, die sich im Krankenhaus um sie gekümmert hatte, doch hatte sie weder die Schwester noch sich selbst so richtig davon überzeugen können. Jeder wusste, dass dies keine Garantie für irgendetwas war. Junge Männer im selben Alter und in derselben Situation, für die niemand Lösegeld zahlte, verschwanden für immer. Die Mütter suchten tagelang nach ihnen zwischen den Leichen voller Würmer und Fliegen in der stinkenden Erde draußen am Stadtrand von Grosny.
    Ruslan hatte seiner Großmutter von einem Studienfreund erzählt, der nach dem Verlust seines von den Mudschaheddin entführten älteren Bruders unterschiedslos nicht nur die Wahhabiten, sondern alle bojewiki hasste und mit dieser verächtlichen Bezeichnung fortan pauschal die Aufständischen aller Klassen und Fraktionen belegte, dabei hatte er sie als Junge im ersten Tschetschenienkrieg unterstützt und sogar für sie gearbeitet, hatte seine kindliche Unschuld eingesetzt und, mit Duldung seiner Familie und von seinem älteren Bruder ermutigt, Botschaften der Rebellen an den russischen Kontrollposten vorbeigeschmuggelt. Mit achtzehn fuhr er dann jeden Morgen im selben Bus wie Ruslan zu den Ruinen der Universität. Die Busse der Universität wurden von den Föderalen eskortiert, und trotzdem kam er durch russische Soldaten ums Leben, die ihn, da er am Ende ja auf ihrer Seite war, eigentlich
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