Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
Vom Netzwerk:
bei einem Bombenangriff abgebrannt, als sich niemand im Haus befand, weshalb fast jeder, der das Gebäude von außen betrachtete und es zum ersten Mal betrat, glaubte, es gäbe nur drei bewohnbare Etagen. Als wäre es unmöglich, im vierten Stock zu wohnen, Wind und Wetter ausgesetzt, zumal im Winter. Abdulah, der Sohn der Nachbarin unter ihnen, den sie mitten in der Nacht unter Protesten seiner Mutter und Schwestern in ein Filtrationslager verschleppt hatten, von wo niemand bei lebendigem Leib zurückkam, war unschuldig und kannte keine Terroristen, und da er niemanden denunzieren konnte, hatte er unter der Folter höchstwahrscheinlich den Namen Ruslans preisgegeben, den Namen des Jungen aus dem obersten Stock, wo niemand wohnen konnte. Ganz einfach, weil er auch jung war, außer ihm der einzige Jugendliche im Haus. Vermutlich hatte er geglaubt, wenn er sagte, was die Russen seiner Meinung nach hören wollten, könne er seine Haut retten oder zumindest dem Grauen des Verhörs ein Ende machen. Die Soldaten suchten nach jungen Tschetschenen. Ob sie tat sächlich mit den Aufständischen gemeinsame Sache machten, spielte keine Rolle. Auf ihr Alter kam es an. Dass sie als junge Leute nichts mit den Rebellen zu tun hatten, war unwahrscheinlich. So jedenfalls lautete die Logik der Russen. Keine zwei Stunden, nachdem sie Abdulah festgenommen hatten, kamen sie zurück und holten Ruslan ab.
    Etwa zwei Jahre war es nun her, zu Beginn des Winters 1999, als die Russen in den ersten Monaten des sogenannten zweiten Tschetschenienkrieges die Stadt zurückeroberten, dass Zainap den bojewiki fünfhundert Dollar gezahlt hatte, damit sie ihr den Leichnam von Chakhban, ihrem Sohn und Ruslans Vater, übergaben. Leichnam ist gut gesagt. Man hatte Chakhban nicht in den Trümmern des Gebäudes gefunden, in dem er bis zu dem Tag des Bombenangriffs als Chemieingenieur gearbeitet hatte. Auch war er nicht zu dem Massengrab am Stadtrand gebracht worden, wo sie nach ihm gesucht hatte. Was Zainap erhielt und bestattete, war ein bis zur Unkenntlichkeit verbrannter Kadaver, den die Banditen nach der Explosion des Gebäudes zusammen mit anderen Leichen herausgeholt hatten, schon mit der Absicht, sie gegen Lösegeld einzutauschen. Die Familien machten sich nicht mehr die Mühe, sie zu identifizieren. Sie gaben sich mit dem einen oder anderen Detail zufrieden, einem Muttermal oder einer Narbe, so als wären diese tatsächlich ein Merkmal des verschwundenen Angehörigen. Hauptsache, sie hatten einen Leichnam, den sie beerdigen konnten, und wenn es nur ein Ersatz war. Zainap beerdigte ihren Sohn in den Bergen, wo ihre eigenen Eltern gestorben waren. Und nur deshalb entging sie der Belagerung der Stadt und dem Bombenangriff, der das oberste Stockwerk des Hauses, in dem sie wohnte, zerstörte. Als das Dachgeschoss in die Luft flog, befand sie sich in den Bergen. Damals begann sie, Geld beiseitezulegen für den Fall, dass ihr Enkel Ruslan entführt würde. Ihr einziger Gedanke war, ihn zu retten. Und umgekehrt hatte Ruslan nach dem Tod seines Vaters nichts anderes im Sinn, als ihr einen weiteren Verlust zu ersparen. Sonst wäre er vermutlich nicht in der zerstörten Stadt geblieben, hätte nicht tagtäglich dem Tod die Stirn geboten, ihn zwischen Ruinen und Trümmern in die Irre geführt.
    Jedenfalls weigerte Zainap sich nicht aus Starrsinn, wegzugehen, als es noch möglich war; und sogar noch nach dem russischen Ultimatum, mit dem die Zivilbevölkerung im Dezember 1999 aufgefordert wurde, Grosny zu verlassen, weil man sie sonst für Terroristen halten und umbringen würde. Das einzige Mal, als sie – unfreiwillig und noch jung – aus Grosny weggegangen war, hatte sie alles verloren. Sie hatte ihre Eltern und Geschwister nie wiedergesehen. Seitdem verband sie Weggehen mit Verlust und verpassten Gelegenheiten. Deshalb dauerte es, bis sie begriff, dass es in ihrer Umgebung über kurz oder lang keine Männer mehr geben würde und dass genau darin der Auftrag des russischen Militärs bestand. Nur Frauen, Alte und Kinder, sofern sie keinen direkten Kontakt zu den Rebellen hatten oder mit ihnen verwandt waren, würden verschont werden und in den Trümmern weiterleben dürfen. Seit 1944, als man sie, eine junge Frau, die ihr Leben noch vor sich hatte, gezwungen hatte, ins Exil zu gehen, konnte sie den Gedanken, ihr Zuhause zu verlassen, nicht ertragen. Fünfzehn Jahre hatte sie in Kasachstan verbracht, und als sie zurückkehrte, fand sie niemanden mehr. Weder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher