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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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schon von Müttern gehört, die ihre im Krieg entführten Söhne auslösten, aber solche Geschichten spielten sich für sie immer weit weg ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Mit dem Kaukasus verbanden sie nur Erinnerungen an die Sommerferien, die sie mit ihrer Mutter, einer Astronomin von der Pulkowo-Sternwarte, auf einem Observatorium in den Bergen verbrachte, wo sie von allen verwöhnt wurde, wahrscheinlich, weil sie das einzige Kind unter all den Wissenschaftlern war. Der Kaukasus zählte zu ihren schönsten Erinnerungen, eine traumhaft schöne Landschaft, die nichts zu tun hatte mit dem Krieg und auch nicht mit den Alpträumen, die sie in der Kindheit plagten und die sich immer in den Straßen der Stadt zwischen düsteren Häusern vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts abspielten.
    Doch die Erinnerung rückt bei jedem Satz ihrer Schulkameradin immer weiter in den Hintergrund. Verglichen mit dem Leben dieser Frau, die ihren Sohn von den Milizen in Tschetschenien freigekauft hat, ist ihr Leben bedeutungslos. Sie hat weder Kinder, noch hat sie – auch wenn dies nicht mehr lange gelten sollte – je einem Menschen das Leben gerettet.
    Nachdem sie in einem Café in der Rubinstein-Straße Platz genommen hatten, erzählte Julia von ihrer eigenen, wenig aufregenden Geschichte. Von ihrem Mann, dem sie auf der Universität begegnet war, hatte sie sich vor fünf Jahren getrennt. Sie hatte Biologie studiert, arbeitete aber seit vier Jahren bei einem Immobilienmakler, wo sie von neun bis fünf das Telefon bediente und Berichte schrieb. Das war ihr Leben. Sie war nie eine glänzende Wissenschaftlerin gewesen und hatte auch nie geglaubt, eine werden zu können. Das Studium hatte sie ihrer Mutter zuliebe absolviert. Im Grunde hatte sie immer Dichterin werden wollen. Sie lächelte verlegen. Ihre Mutter sei ihr eine schreckliche Last gewesen, sagte sie. Der Kellner kam, bevor sie zum ersten Mal einem Menschen – auch wenn es nur eine Bekannte aus ihrer Jugend war, die sie seit vierzig Jahren nicht gesehen hatte und die ihr überhaupt nicht nahestand – anvertrauen konnte, dass ihre Tage gezählt waren. Seit zwei Wochen schon wusste sie es. Sie hatte sonst niemanden mehr, dem sie es erzählen konnte.
    »Ich sterbe vor Hunger. Ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen«, sagte Marina zum Kellner, sah ihn aber nicht an, während sie die Karte studierte. Dann bestellte sie einen Tee und ein Sandwich. Julia wollte nur ein Glas Wasser. Als der Kellner gegangen war, sahen sie einander an und lächelten. Noch immer staunten sie über ihr unerwartetes Wiedersehen. Und in die Pause hinein stellte Marina dann die Frage, mit der die Geschichte beginnt:
    »Wenn du keinen Sohn hast, weswegen bist du dann gekommen?«
    »Ich teile mir die Wohnung mit einem Ehepaar und ihren drei Söhnen. Der Älteste, der zusammen mit dem Mittleren in dem Zimmer neben meinem schlief, wurde im Januar nach Irkutsk geschickt. Ich habe Wassja aufwachsen sehen. Er spielte immer mit den anderen Kindern aus dem Haus Räuber und Gendarm. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern, wie ich von der Arbeit nach Hause kam und ihn in der Nische unter der Treppe entdeckte. Er bedeutete mir, nichts zu sagen, damit ich nicht verriet, wo er sich versteckt hatte, aber das Spiel war schon seit mehreren Stunden vorbei, und die anderen Kinder waren längst nach Hause gegangen. Bis zu diesem Tag hatte ich ihn dort nie bemerkt. Er blieb immer in seinem Versteck, auch wenn das Spiel schon zu Ende war. Die anderen vergaßen ihn. Ich mochte ihn. Ich glaube, er mochte mich auch. Wir unterhielten uns oft. Mit der Zeit zog er sich immer mehr zurück, verließ nur noch sein Zimmer, um zur Schule zu gehen. In den letzten Jahren saß er nächtelang an seinem Computer. Bis dann eines Tages die Polizei kam und ihn abholte. Offenbar hatte er es geschafft, die Website irgendeiner Regierungsstelle zu blockieren.«
    Marina lächelt. Ein müdes Lächeln.
    »Diejenigen, die Websites der Regierung blockieren, sind dieselben, die dann im Dienst der Regierung versuchen, uns auszuschalten, und unsere Website bombardieren, bis sie zusammenbricht. Sie haben überhaupt kein Problembewusstsein. Ihre Anonymität erlaubt ihnen, in jede Richtung zu agieren, ohne in Widerspruch zu irgendwelchen Grundsätzen zu geraten.«
    Julia tut, als hätte sie es nicht gehört.
    »Wassja blieb ein Jahr im Erziehungsheim. Die Mutter ging ihn besuchen und sagte, es gehe ihm gut. Aber dann wurde er nicht
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