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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman
Autoren: Bernardo Carvalho
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hat?«
    »Meine Großmutter«, korrigierte Julia. »Als mein Onkel 1951 verhaftet wurde, entdeckte meine Großmutter Anna Achmatowa zwischen den Frauen, die vor dem Kresty- Gefängnis auf Nachrichten von ihren Männern und Söhnen warteten. Als sie die Dichterin erkannte, die sie in ihrer Jugend gelesen und bewundert hatte und der man das Schreiben verboten hatte, ging sie zu ihr und bat, sie möge wieder Gedichte schreiben, Gedichte über die Frauen und Mütter, die vor den Mauern des Kresty auf ihre Männer und Söhne warten. Nachdem Anna Achmatowa erfahren hatte, dass mein Onkel im Straflager umgekommen war, suchte sie meine Großmutter auf und trug ihr einen Text vor, eine Hommage, wie sie sagte, sie dürfe sie nur rezitieren, aber nicht aufschreiben. Sie konnte ihr den Text nicht schriftlich geben, sie durfte das Leben ihres Sohnes nicht noch einmal aufs Spiel setzen, und deshalb hatte sie beschlossen, den Text meiner Großmutter vorzutragen. Meine Großmutter sollte ihn auswendig lernen. Das war, gleich nachdem der Sohn von Anna Achmatowa freigelassen worden war, im Gegensatz zu meinem Onkel, der im Straflager starb. Sie sagte, sie habe unbedingt kommen müssen, nachdem sie vom Tod meines Onkels erfahren hatte. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie meine Großmutter ihr damals vor dem Gefängnis zugeredet hatte, wieder zu schreiben.«
    »Merkwürdig, das ist eine der wenigen Geschichten, an die ich mich aus der Schulzeit erinnere. Wenn ich durch die Arsenalnaja komme und zwischen den Gitterstäben die Arme der Häftlinge sehe, die ihren Angehörigen unten auf der Straße mit Tüchern Zeichen geben, und wie diese ihnen in einem privaten Code antworten, dann muss ich immer an deine Großmutter denken.«
    »Meine Großmutter war die Frau mit den blauen Lippen in dem Vorwort zu dem Gedicht, erinnerst du dich? Sie konnte es auswendig: ›In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jechow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen vor den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Irgendwie erkannte mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehende Frau mit blauen Lippen, die meinen Namen natürlich nie gehört hatte, aus jener Erstarrung, die uns allen eigen war, und flüsterte mir ins Ohr die Frage (dort sprachen alle im Flüsterton): Können Sie das beschreiben? Und ich antwortete: Ja, ich kann es. Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.‹ Ihre Lippen waren vor Kälte blau.«
    Auf dem Weg zum Café erzählte Marina, wie sie zum Komitee der Soldatenmütter St. Petersburg gekommen war. Vor mehr als zwei Jahren war ihr jüngster Sohn nach Tschetschenien geschickt worden, da sie damals nicht das Schmiergeld für die Aufnahme in die Universität hatten. Hätte er sich an der Universität einschreiben können, hätte ihn das vom Militärdienst befreit.
    »Aber Pawel war jung und dickköpfig und weigerte sich, ein anderes Fach zu wählen. Er hätte sich zum Beispiel für Mathematik, für Ingenieurwissenschaften einschreiben können oder für eine Sprache, die niemand lernen will, Slowenisch oder Portugiesisch, aber er wollte Englisch studieren, wie alle anderen, und das konnten wir nicht bezahlen. Mein Mann war kurz zuvor gestorben. Wir standen vor dem Nichts, ich hätte das Geld aufbringen, es mir leihen können, aber Pawel fand es unmoralisch, für einen Studienplatz zu bezahlen, auf den er mit seinen Zensuren einen Anspruch hatte. Zu unserer Zeit gab es solche Probleme nicht.«
    »Da hatten wir andere Probleme.«
    »Er weigerte sich auch, sich vom Arzt ein Attest ausstellen zu lassen.«
    Solange Pawel nicht studierte, ließ sich nicht verhindern, dass er eingezogen und in den Krieg geschickt wurde. Nachdem Marina über vier Monate lang nichts von ihm gehört hatte, ging sie schließlich zu den Soldatenmüttern und erfuhr nach zweimonatigen Bemühungen und Nachforschungen bei der Militärverwaltung, dass ihr Sohn von tschetschenischen Milizen entführt worden war und als tot galt. Sie reiste allein nach Grosny, bekam heraus, wo ihr Sohn sich befand, verhandelte persönlich mit den Entführern über das Lösegeld und holte ihn nach St. Petersburg zurück.
    »Ich war nicht die Erste und auch nicht die Einzige. Und den Mut dazu hatte ich nur, weil andere Mütter es vor mir getan haben. Und weil niemand es mir hätte abnehmen können. Und weil ich, wenn ich es nicht getan hätte, niemanden mehr gehabt hätte, für den ich es hätte tun können.«
    Julia hatte
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