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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen
Autoren: Dean R. Koontz
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der Hauptstraße an der Einmündung der Gasse vorbeifuhren. Eine Biene summte an Sammys Gesicht vorbei.
    Er konnte wieder richtig atmen. Einen Augenblick lang stand er keuchend in der hellen Mittagssonne.
    Das Schlimmste war, dass das alles am helllichten Tag passiert war, draußen im Freien, ohne Rauch, Spiegel, raffinierte Beleuchtung, Seidenfäden, Falltüren und die sonstige Standardausrüstung eines Zauberers.
    Sammy war mit der guten Absicht aus seiner Kiste geklettert, sich trotz seines Katers in den Tag zu stürzen, vielleicht weggeworfene Aluminiumdosen zu sammeln und sie beim Recycling-Center einzulösen oder die Leute auf der hölzernen Uferpromenade ein bisschen anzuschnorren. Seinen Kater war er zwar jetzt los, aber trotzdem fühlte er sich noch nicht in der Lage, der Welt entgegenzutreten.
    Auf wackeligen Beinen kehrte er zu dem Oleanderstrauch zurück. Die Zweige waren schwer mit roten Blüten behangen. Er schob sie zur Seite und starrte auf die große Holzkiste, die sich darunter befand.
    Er nahm sich einen Stock und stocherte zwischen den Lumpen und Zeitungen in der großen Kiste herum, in der Erwartung, dass ein paar Ratten aus ihrem Versteck geschossen kämen. Doch sie hatten sich anderswohin verzogen.
    Sammy ließ sich auf die Knie fallen, kroch in seine Zufluchtsstätte und ließ die Oleandervorhänge hinter sich zufallen.
    Aus dem Häufchen seiner spärlichen Besitztümer im hinteren Teil der Kiste nahm er eine ungeöffnete Flasche billigen Burgunders und drehte den Verschluss ab. Er nahm einen kräftigen Schluck von dem leicht angewärmten Wein.
    Mit dem Rücken gegen die hölzerne Wand gelehnt, die Flasche mit beiden Händen umklammernd, saß er da und versuchte zu vergessen, was er gerade gesehen hatte. Seines Erachtens war Vergessen die einzige Möglichkeit, damit umzugehen. Er kriegte ja die Probleme des alltäglichen Lebens schon nicht mehr auf die Reihe. Wie konnte er da erwarten, mit einem Phänomen wie dem Rattenmann fertig zu werden?
    Ein Gehirn, das durch zu viele Gramm Kokain aufgeweicht, mit zu vielen anderen Drogen gewürzt und in Alkohol mariniert ist, kann die erstaunlichste Menagerie von halluzinierten Geschöpfen hervorbringen. Und wenn ihn das schlechte Gewissen plagte, und er sich verzweifelt bemühte, einen seiner immer wiederkehrenden Schwüre zu erfüllen und mit dem Trinken aufzuhören, dann fiel er durch den Entzug ins Delirium tremens, das von einer noch viel bunteren und bedrohlicheren Fantasiewelt von Ungeheuern bevölkert war. Aber keine davon war so unvergesslich und zutiefst beunruhigend wie der Rattenmann.
    Er nahm einen weiteren kräftigen Schluck Wein, lehnte seinen Kopf gegen die Wand der Kiste und hielt sich mit beiden Händen an der Flasche fest.
    Von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag fiel es Sammy immer schwerer, zwischen Realität und Fantasie zu unterscheiden. Er hatte seit langem aufgehört, seinen Wahrnehmungen zu trauen. Doch einer Sache war er sich entsetzlich sicher: Der Rattenmann war wirklich. Unmöglich, fantastisch, unerklärlich - aber wirklich.
    Sammy erwartete nicht, Antworten auf die Fragen zu finden, die ihn heimsuchten. Dennoch konnte er nicht aufhören sich zu fragen: Was war das für ein Wesen, woher kam es, warum wollte es einen ergrauten, heruntergekommenen Obdachlosen quälen und töten, dessen Tod - oder Weiterleben - wenig oder gar keine Bedeutung für die Menschheit hatte?
    Er trank noch mehr Wein.
    36 Stunden. Ticktack. Ticktack.
     

Kapitel 3
     

    Polizisteninstinkt.
    Als der Biedermann mit der grauen Cordhose, dem weißen Hemd und der dunkelgrauen Jacke das Restaurant betrat, fiel er auch Connie auf, und sie wusste gleich, dass irgendwas mit ihm nicht stimmte. Als sie sah, dass Harry das ebenfalls bemerkt hatte, nahm ihr Interesse an dem Typ erheblich zu, weil Harry eine Nase hatte, um die selbst ein Bluthund ihn beneidet hätte.
    Polizisteninstinkt ist weniger ein Instinkt als eine stark ausgeprägte Fähigkeit zu beobachten und ein gutes Gespür dafür, wie das Beobachtete interpretiert werden muss. Bei Connie war es eher eine unterbewusste Wahrnehmung als eine absichtliche Überwachung aller, die ihr über den Weg liefen.
    Der Verdächtige stand fast noch an der Tür, in der Nähe der Registrierkasse, und wartete, während die Hostess einem jungen Paar einen Tisch an einem der großen vorderen Fenster anwies.
    Auf den ersten Blick wirkte er ganz normal, durchaus harmlos. Doch bei näherem Hinsehen konnte Connie die Unstimmigkeiten
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