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Drachentränen

Drachentränen

Titel: Drachentränen
Autoren: Dean R. Koontz
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erkennen, die hin-
    ten auf der Straße hielten. Die Fahrer^ die nur als schattenhafte Umrisse zu sehen waren, warteten regungslos.
    In unmittelbarer Nähe, direkt vor seinem Gesicht, war ein zwei Zentimeter langer, flügelloser Ohrwurm, der außerhalb seiner gewohnten Umgebung von modrigem Holz und dunklen Ecken merkwürdig deplaziert wirkte, beim Überqueren des Weges erstarrt. Die Doppelzange am Hinterleib des Insekts wirkte bösartig und gefährlich und war wie der Stachel eines Skorpions hochgebogen, obwohl das Tier in Wirklichkeit harmlos war. Einige seiner sechs Beine berührten das Pflaster, andere waren im Schreiten gehoben. Es bewegte noch nicht einmal einen seiner geteilten Fühler, als ob es vor Angst erstarrt oder zum Angriff bereit wäre.
    Sammy ließ seinen Blick wieder zum Ende der Gasse gleiten. Auf der Straße standen dieselben Autos immer noch auf derselben Stelle wie vorher. Die Leute saßen wie Schaufensterpuppen darin.
    Noch einmal das Insekt. Unbeweglich. So ruhig, als ob es tot und an die Tafel eines Insektenforschers gesteckt wäre.
    Vorsichtig ließ Sammy seine vor dem Kopf verschränkten Arme sinken. Er rollte sich ächzend auf den Rücken und blickte zögernd zu dem Angreifer hoch.
    So bedrohlich wie er über ihm aufragte, schien der Rattenmann 30 Meter groß zu sein. Er betrachtete Sammy mit ernsthaftem Interesse. »Willst du leben?« fragte er.
    Sammy wunderte sich weniger über die Frage als über seine Unfähigkeit, sie zu beantworten. Er war hin- und her gerissen zwischen der Angst vor dem Tod und dem Bedürfnis zu sterben. Jeden Morgen, wenn er aufwachte, war er enttäuscht, dass er noch unter den -Lebenden war, und jeden Abend, wenn er sich unter seiner Bettdecke aus Lumpen und Zeitungen zusammenrollte, hoffte er auf den endlosen Schlaf. Dennoch bemühte er sich Tag für Tag, genügend zu essen zu bekommen, einen warmen Platz in jenen seltenen kalten Nächten zu finden, in denen Kalifornien nicht wie gewohnt vom Wetter begünstigt war, sich bei Regen trocken zu halten, um keine Lungenentzündung zu bekommen, außerdem sah er nach beiden Seiten, bevor er eine Straße überquerte.
    Vielleicht wollte er gar nicht leben, sondern nur mit dem Leben bestraft werden.
    »Ich fände es besser, wenn du leben wolltest«, sagte der Rattenmann ganz ruhig. »Dann hätte ich mehr Spaß.«
    Sammys Herz schlug viel zu stürmisch. Jeder Pulsschlag klopfte besonders hart gegen die Druckstellen, die die heftigen Tritte des Rattenmannes hinterlassen hatten.
    »Du hast noch 36 Stunden zu leben. Du solltest irgendwas unternehmen, meinst du nicht? Hmmmm? Die Zeit läuft. Ticktack, ticktack.«
    »Warum tust du mir das an?« fragte Sammy wehleidig.
    Statt zu antworten sagte der Rattenmann: »Morgen um Mitternacht kommen die Ratten zu dir.«
    »Ich hab’ dir nie was getan.«
    Die Narben in dem brutalen Gesicht des Peinigers verfärbten sich bläulich: »… fressen dir die Augen aus…«
    »Bitte.«
    Seine blassen Lippen strafften sich beim Sprechen, so dass noch mehr faule Zähne sichtbar wurden: »… reißen dir die Lippen weg, während du schreist, knabbern an deiner Zunge…«
    Während sich der Rattenmann immer mehr steigerte, wurde sein Verhalten keineswegs fieberhafter, sondern ganz kühl. Seine Reptilienaugen schienen eine Kälte auszustrahlen, die Sammy unter die Haut kroch und in die entferntesten Bereiche seines Verstandes drang.
    »Wer bist du?« fragte Sammy nicht zum ersten Mal.
    Der Rattenmann gab keine Antwort. Er schwoll vor Wut an. Seine dicken, schmutzigen Finger ballten sich zu Fäusten, streckten sich wieder aus, ballten sich, streckten sich. Er knetete die Luft, als ob er hoffte, Blut aus ihr herausquetschen zu können.
    Was bist du? fragte sich Sammy, wagte das aber nicht laut auszusprechen.
    »Ratten«, fauchte der Rattenmann.
    Aus Angst vor dem, was gleich passieren würde, obwohl es schon mal passiert war, rutschte Sammy auf seinem Hintern zurück in Richtung auf den Oleanderstrauch, der seine Kiste zur Hälfte verdeckte, um eine gewisse Distanz zwischen sich und den drohend über ihm aufragenden Penner zu legen.
    »Ratten«, wiederholte der Rattenmann und fing an zu zittern.
    Es ging los.
    Sammy erstarrte, konnte sich vor lauter Angst nicht mehr bewegen.
    Das Zittern des Rattenmannes wurde zu einem Schaudern. Das Schaudern steigerte sich zu einem krampfartigen Beben. Sein öliges Haar peitschte ihm um den Kopf, seine Arme zuckten, seine Beine tanzten, und sein schwarzer Regenmantel
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