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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe
Autoren: Mark Stichler
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Straße entlang zum Dorf.
    „Was singen Sie da?“, fragte sie gereizt, als sie am Kreisverkehr rechts nach Liebenau abbog und die Straße in den Wald zum Sanatorium nahm.
    „Beatles“, sagte Dr. Ohio. „Wir Japaner lieben die Beatles.“
    „Wir Japaner“, schnaubte Erika verächtlich. „Was heißt hier, wir Japaner? Viele lieben die Beatles. Und Sie? Sie leben schon so lange hier, Sie sind kein Japaner in dem Sinn.“
    „In welchem Sinn?“, fragte Dr. Ohio neugierig.
    „Im streng japanischen Sinn.“ Erika zog ärgerlich ihre Stirn in Falten. Sie mussten beide lachen.
    „Because the sky is blue, it makes me cry”, summte Dr. Ohio. Er überlegte.
    „Das wäre ein schlechter Haiku, trotzdem ist es sehr schön.“
    Am grünen Hügel vor ihnen hingen in einiger Entfernung die weiß strahlenden Gebäude des Sanatoriums.
    Am Abend, kurz nachdem die Sonne glutrot hinter den Wäldern untergegangen war, kam es Dr. Ohio so vor, als würde die Welt einen kurzen Moment erschöpft stillhalten und Atem schöpfen nach dem hitzeflimmernden Tag. Ein leises Säuseln wie Atmen, ein leichter, stetig werdender Wind, der den Hang hinunterwehte und ein bisschen Erfrischung für die vom dauernden Druck der Sonne zermalmten Gräser brachte. Ohio stand mit einem Glas Gin Tonic auf seinem kleinen Balkon, sah dem weichenden Tag nach und dem Aufsteigen der Nacht zu. Im Wohnzimmer herrschte diffuses Halbdunkel, der helle Stoff seiner Couch schimmerte undeutlich. Die Welt atmete ein und aus.
    Eine Untersuchung von Höpfners Tod hätte wenig Sinn, hatte die Kommissarin gesagt. Bei einer solchen Explosion wie der von Höpfners Schuppen und dem Tank gab es nicht mehr viel zu rekonstruieren. Und nachdem die Untersuchungen der Feuerwehr und der Polizei abgeschlossen waren, hatte ein Bauunternehmen die Aufräumarbeiten besorgt. Es war unmöglich, jetzt noch irgendwelche Teile der Scheune und des Tanks aufzutreiben.
    „Es wird immer erst bei einem konkreten Verdacht auf Mord auch tatsächlich ermittelt“, hatte die Kommissarin erklärt. „Und der war nicht vorhanden.“ Sie hob bedauernd die Hände. „Wie viele Morde tatsächlich geschehen, können wir gar nicht sagen. Die Aufklärungsrate ist hoch, bezieht sich aber nur auf die Fälle, in denen überhaupt untersucht wird. Im Fall Höpfner kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“
    Es würde also ewig ein Rätsel bleiben, ob Carl Höpfner durch einen Unfall umgekommen war oder ob sein Assistent nachgeholfen hatte. Dr. Ohio stützte sich auf das Balkongeländer und schnippte mit dem Finger leicht gegen sein kühles Glas. Die Beerdigung fiel ihm ein. In seiner Erinnerung wurde sie dominiert vom Lila des bischöflichen Kostüms. Alles war in Lila getaucht. Es heißt nicht Kostüm, dachte er und nahm sich vor, nachher im Lexikon die korrekte Bezeichnung nachzuschlagen.
    Die Welt atmete ein und aus. Ohio hätte noch ewig so in der warmen Brise der aufkommenden Nacht stehen können, aber sein Glas war leer. Drinnen war es jetzt fast ganz dunkel. Irgendetwas raschelte im Windzug, der durch die Balkontür ins Zimmer wehte. Dr. Ohio ging hinein, um sich noch einen Drink zu machen, und knipste in der Küchenzeile ein kleines Licht an. Um den begrenzten Lichtschein herum verlor sich die Welt in einem körnigen Schwarz, wie Granulat. Er und der Gin waren allein im schwarzen Universum. Zumindest hatten sich die anderen Seelen außer Sichtweite um ihre eigenen Lämpchen versammelt und trieben in diesem dunklen Ozean einsam vor sich hin. Und wenn es wieder raschelte, konnte es eigentlich nur das Aneinanderreiben der fein gemahlenen Materie sein. Oder es war eine Seele ohne Licht, auf Wanderschaft durch die Dunkelheit.
    „Machen Sie die Tür zu, Doktor, sonst kommt Ungeziefer herein“, hörte Ohio eine Stimme vom Sofa. Einen Moment lang setzte sein Herz aus. Einen unendlichen Moment lang herrschte vollkommene Stille im allumfassenden Meer der Nacht. Dann begann ein dröhnendes Rauschen, das Dr. Ohio auf seinen rapide gestiegenen Blutdruck zurückführte. Langsam zog er eine Schublade auf, in der ein paar schmale Küchenmesser lagen.
    „Ich habe hier eine Pistole und die zielt genau auf Ihren japanischen Schädel“, sagte Wieri ruhig, und doch ... meinte Ohio einen hysterischen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen, wie das leise Schleifen einer Kreissäge, die weit entfernt in den vielfältigen Geräuschen einer belebten Stadt fast unter der Wahrnehmungsgrenze singt. Bluffte er?
    „Wie sind Sie hier
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