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Dr. Ohio und der zweite Erbe

Dr. Ohio und der zweite Erbe

Titel: Dr. Ohio und der zweite Erbe
Autoren: Mark Stichler
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Wutschrei die Pistole nach Dr. Ohio. Sie flog durch die Fensterscheibe und ließ einen kräftigen Windstoß herein, der ein Gewitter ankündigte und die Vorhänge blähte. Wieri stürzte sich wie ein dünner, abgemagerter Tiger auf sein Opfer und riss Ohio mit sich zu Boden. Verzweifelt versuchte der Finne, ihm die Kehle zuzudrücken und gleichzeitig an die Pistole zu kommen, die Ohio mit ausgestrecktem Arm von sich hielt.
    „Das – gibt’s – doch – nicht“, keuchte er und schlug auf Dr. Ohio ein. Der wehrte sich verzweifelt, aber er spürte, wie er unter den nicht sehr starken, aber permanent prasselnden Schlägen schwächer wurde. Er fühlte die wabernde Dunkelheit um sich, den seidenweichen Wind, das Pulsieren seines Blutes und die Trägheit seines Körpers. Er musste ... Er musste ... Benommen schüttelte er den Kopf. Was war los? Er raffte sich noch einmal auf und verpasste Wieri mit dem Pistolengriff einen Schlag gegen den Kopf. Er war nicht stark, genügte aber, um den ausgezehrten Wieri benommen zusammensacken zu lassen. Keuchend wälzte er ihn von sich herunter, spannte den Hahn und zielte.
    „Doktor, nicht!“, gellte ein Schrei. Ohio sah mehrere Gestalten ins Zimmer kommen. Es war ihm egal, ob seine Großmutter dabei war oder nicht. Er hatte genug. Jetzt würde ein für alle Mal Schluss sein. Ohne Geräusch erhellte eine weiße Zeitlupenexplosion mit gezackten Rändern die Finsternis, gleich einem angerissenen Streichholz. Ohio gab sich der süßen Dunkelheit hin, in der weit weg ein kleines, winziges Lichtlein brannte. Ein Quastenflosser im luftigen Ozean der Nacht.
    Er war wohl nur einige Sekunden weg, aber für Ohio war es wie 360 Millionen Jahre gewesen. Ein angenehmer, bekannter Geruch umfing ihn. Er schlug die Augen auf.
    „Doktor“, drang es leise durchs Gelaber und Gewaber der Millionen Jahre. Er lag an Erikas Brust, von ihrem Arm gestützt. Sie strich ihm sanft über die Schläfe.
    „Haben Sie ihn nicht?“, fragte Ohio schwach.
    Erika beugte sich über ihn und flüsterte dicht an seinem Ohr: „Was soll die Negation? Du hast danebengeschossen. Er wollte aus dem Fenster fliehen. Aber sie haben ihn gerade noch erwischt.“
    „Mmh“, machte Dr. Ohio.
    „Was ist?“
    „Ich liege wirklich sehr angenehm, Erika. Aber so werde ich über kurz oder lang ersticken. Es wird ein süßer Tod.“
    Ein paar Tage später war Ohio wieder auf den Beinen. Nur seine Rippen schmerzten noch. Das Wetter war umgeschlagen, die aufgestaute Hitze der vergangenen Tage hatte sich in ein paar heftigen Gewittern entladen. Es war noch warm, aber Wolken trieben in schnellen Fetzen über den Himmel, stürmisch wie an der See. Die Bäume ruderten mit ihren langen Ästen und Zweigen im Wind und Spaziergängern wurden die Worte vom Mund und die Hüte vom Kopf gerissen.
    Dr. Ohio und Erika gingen mit flatternden Regenjacken dicht nebeneinander her. Sie waren auf dem Weg über die Felder des Hügels gegenüber des Sanatoriums. Links zog sich der Wald, auf der rechten Seite waren die Häuser und Scheunen eines Bauernhofs zu sehen. Eine knorrige alte Eiche stand dort oben, im Frühjahr und Herbst von der vereinigten Raben- und Krähenoffensive oftmals als Hauptniederlassung genutzt.
    „Tja, Doktor, du hast meine Nummer gewählt, statt die der Polizei ...“ Erika blieb etwas außer Atem stehen, sah sich nach ihm um und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Wenn das kein Zeichen ist ...“
    „Von Zeichen habe ich wirklich genug. Aber ich danke dir, dass du so rasch reagiert hast ...“ Ohio nahm ihre Hand und verschwieg, dass er sie absichtlich angerufen hatte.
    Auf dem Hügel wehte der Wind in Böen und zerzauste ihnen die Haare. Sie zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken zu und sahen über die hügelige Landschaft. Dr. Ohio dachte an Brigitte. Eigentlich hätte sie schon längst wieder zurück sein sollen. Er hatte einiges mit ihr zu besprechen. Aber bisher war sie nicht erschienen. Auch Heinz machte sich inzwischen Sorgen, er hatte sogar schon mit Ohio telefoniert. Es war das erste private Gespräch gewesen, das sie seit langem miteinander geführt hatten. Und es endete damit, dass sie sich verabredet hatten, um nach so langer Zeit vielleicht mal „ein paar Dinge zu klären“, wie Heinz mit ungewohnt unsicherer Stimme gesagt hatte. Ohio war einverstanden gewesen. Jetzt bereute er es schon wieder. Was sollten sie sich schon zu sagen haben? Zwei Männer, die vor über 20 Jahren in dieselbe Frau verliebt waren
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