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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne
Autoren: Jo Nesbø
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die sie wegen Hexerei zum Tode verurteilten. Die Bevölkerung der Stadt Rouen wurde zu einem Fest auf den Marktplatz geladen, wo man Jeanne an einen Pfahl band, über einem Scheiterhaufen, und ihn anzündete...«
    Da ertönte ein dünner, aber trotzdem fast flehentlicher Ausruf in der Klasse: ». . . aber dann kam der Kronprinz und rettete sie!«
    Alle drehten sich zu Lise um, die sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. Niemand – schon gar nicht sie selbst – war daran gewöhnt, dass sie sich so gehen ließ.
    »Schaut euch genau das Bild in eurem Geschichtsbuch an«, sagte Frau Strobel. »Da seht ihr, wie die Flammen an Jeanne d’Arcs weißem Gewand emporlodern. Sieht das so aus, als ob sie gerettet würde?«
    »Nein!«, rief die Klasse im Chor.
    »Und sie wurde tatsächlich nicht gerettet«, sagte Frau Strobe. »Sie wurde verbrannt und die verkohlte Leiche warf man in den Fluss. Jeanne d’Arc wurde nur neunzehn Jahre alt.«
    Lise betrachtete die Zeichnung im Geschichtsbuch. Das Gesicht des Mädchens erinnerte sie an ein anderes Gesicht auf einem anderen Bild. Nämlich an die junge Juliette Margarine im Beiwagen von Professor Proktors Motorrad. Beim Gedanken an die schrecklichen Ereignisse schossen Lise Tränen in die Augen.
    »Klare Sache, dass das Mädchen sterben musste«, sagte Bulle.
    Frau Strobe nahm die Brille ab. »Warum sagst du das, Herr Bulle?«
    »Wer ein richtiger Held werden will, muss erst mal richtig sterben.«
    Die Klasse lachte, aber Frau Strobe nickte. »Das mag schon sein«, murmelte sie, »das mag schon sein.«
    Doch da klingelte es, und bevor Frau Strobe bis zum »ch« in »Schönes Wochenende« gekommen war, flitzte das erste Kind schon durch die Klassentür. Denn es war die letzte Stunde am Freitag gewesen und jetzt hatten alle frei.
    Lise nahm im Flur ihre Jacke vom Haken und hörte mit, wie ein paar von den anderen Mädchen fröhlich über eine Party sprachen, zu der offenbar alle anderen eingeladen waren. Alle außer ihr. Und außer Bulle natürlich. Sie hatte sie auch über ihn flüstern gehört. Dass er so winzig und seltsam war und dass sie nicht wussten, was sie von dem halten sollten, was er sagte und machte.
    »Heiho!«
    Bulle hüpfte auf die Bank neben ihr und nahm seine Jacke vom Haken.
    Die anderen Mädchen steckten die Köpfe zusammen, flüsterten und kicherten. Dann drehte die Mutigste von ihnen sich zu Lise und Bulle um, während die anderen lachend hinter ihr in Deckung gingen:
    »Na, ihr zwei Turteltauben, was macht ihr beide Schönes an diesem Wochenende?«
    »Erstens, meine Süße, hast du keine Ahnung, was Turteltauben sind«, sagte Bulle und knöpfte sich die Jacke zu, was schnell getan war, schließlich hatten nur zwei Knöpfe an ihr Platz. »Aber falls in deinem Hirn noch Ka- pazitäten frei sind, versuch, dir das hier zu merken: Turteltauben sind dinosaurierartige Vögel mit Schildkröten-panzern, die davon leben, dass sie ihren eigenen Jungen die Augen aushacken. Zweitens sind Lise und ich auf die eine oder andere todöde Party hier im Städtchen eingeladen, auf die wir ganz sicher nicht gehen. Oslo ist überhaupt eine todlangweilige Stadt.«
    »Ach ja, langweilig?«, meinte das Mädchen und stemmte die Hände in die Seiten, wusste aber ganz offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Dann sagte sie: »Hallo!«
    »Ja, HALLO!«, wiederholten die anderen hinter ihrem Rücken. Eine von ihnen konnte sich aber nicht zurückhalten: »Und...und was macht ihr stattdessen?«
    »Wir . . .«, sagte Bulle, hopste von der Bank und stellte sich neben Lise, ». . . fliegen nach Paris in die Rote Mühle und tanzen Cancan. Schönes Wochenende noch, ihr kleinen Mädels.«
    Lise konnte es zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass die anderen mit offenen Mündern zusahen, wie sie und Bulle ihnen den Rücken zukehrten und in die funkelnde Herbstsonne hinausmarschierten.
    Bulle und Lise gingen zur Bushaltestelle und nahmen den 17er Richtung Rathausplatz. Dort stiegen sie aus und fragten sich zur Rosenkrantzstraße durch, einer verkehrs reichen, recht engen Straße mit vielen Geschäften und Bürgersteigen voller Fußgänger. Ganz am Ende der Rosenkrantzstraße, über einer rot gestrichenen Tür und einem kleinen, gänzlich mit Uhren vollgestellten Schaufenster, hing tatsächlich ein Schild mit der Aufschrift UHREN-LANGFRAKK.
    Die Türfedern waren so stramm gespannt, dass sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür lehnen mussten. Und selbst so bekamen sie sie kaum auf. Die
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