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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne
Autoren: Jo Nesbø
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sehen.«
    Lise hielt ihr die Briefmarke auf der ausgestreckten Hand hin.
    Die Frau fischte ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und lehnte sich über Lises Hand.
    »Hm«, sagte sie. »Felix For. Wo habt ihr die her?«
    »Das ist geheim«, sagte Lise.
    Die Frau zog ihre andere, ebenso dünne Augenbraue hoch. »Geheim?«
    »Allergeheimstens«, sagte Bulle.
    »Sie sieht aus, als wäre sie nass gewesen«, flüsterte die heisere Stimme. »Überdies ist hier am Rand so ein weißer Belag. Habt ihr sie in Seifenwasser gelegt?«
    »Nein«, sagte Bulle, ohne Lises warnenden Blick zu bemerken.
    Die Frau streckte den Zeigefinger aus und kratzte mit einem langen, rot bemalten Fingernagel über die Briefmarke. Dann steckte sie den Finger in den Mund, der auch nur ein schmaler Schlitz in dem straff gespannten Gesicht war. Sie schmatzte. Und jetzt zog sie beide Augenbrauen zugleich hoch.
    »Da soll mir doch der Achtersteven splittern«, flüsterte sie.
    »Hä?«, meinte Bulle.
    »Ich kaufe sie. Was wollt ihr dafür?«
    »Nicht viel«, sagte Bulle. »Nur genug für zwei Flugzeugtickets nach... Au!«
    Verärgert sah er Lise an, die ihm einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hatte.
    »Viertausend Kronen«, sagte Lise.
    »Bei der neunschwänzigen Katze!«, rief die Frau empört. »Viertausend für eine alte Briefmarke mit einem tristen, toten Präsidenten drauf?«
    »Okay, dreitau. . .«, wollte Bulle sagen, schrie aber auf, weil er schon wieder einen vors Schienbein bekam.
    »Viertausend, jetzt sofort, sonst gehen wir«, sagte Lise.
    »Dreitausend und für jeden von euch beiden eine Uhr«, sagte die Frau. »Zum Beispiel die hier, eine Spezialanfertigung für Menschen, die zu viel zu tun haben: Sie geht extra langsam. Oder diese, die geht besonders schnell, für Leute, denen rasch langweilig ist.«
    »Ja!«, rief Bulle.
    »Nein!«, sagte Lise. »Viertausend. Und wenn Sie nicht in fünf Sekunden einschlagen, steigt der Preis auf fünftausend.«
    Die Frau blickte Lise fuchsteufelswild an. Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber da sah sie Lises Blick und hielt inne. Mit einem Seufzer blickte sie gen Himmel und ächzte resigniert: »Na gut, du kielgeholter Blutsauger von einer Rotzgöre.«
    Zisch – verschwand sie auf ihrem Rollschuh hinterm Vorhang, um sogleich wieder aufzutauchen, ein Bündel Banknoten in der Hand, das sie Bulle hinhielt. Er leckte sich den rechten Daumen an und zählte das Geld nach.
    »Hoffentlich kannst du wenigstens rechnen«, murmelte die Frau.
    »Einfache Mathematik«, sagte Bulle. »Zwanzig Hunderter plus zwei alte Tausender. Macht viertausend. Danke fürs Geschäft, Fräulein...«
    »Ich heiße Raspa«, sagte die Frau und wagte vorsichtig ein dünnes Lächeln, als befürchtete sie, ihr Gesicht könnte zerspringen, wenn sie breiter lächelte.
    »Und wie heißt ihr, liebe Kinder?«
    »Bulle und Lise«, sagte Bulle und gab Lise das Geld, die es in die Seitentasche ihres Schulranzens steckte.
    »Aha, Bulle und Lise. Als Zugabe zu unserem Geschäft bekommt ihr noch diese goldenen Uhren.«
    Sie ließ zwei schimmernde Armbanduhren vor ihnen baumeln.
    »Klasse!«, rief Bulle und griff nach einer davon, aber Raspa zog sie weg.

    »Erst muss ich die Zeitzone der Gegend einstellen, in die ihr wollt«, sagte sie. »Wohin geht die Reise?«
    »Paris!«, rief Bulle. »Die Hauptstadt von Frank. . . Autsch!«
    Seine Augen quollen heraus vor Schmerzen.
    »Oh, entschuldige, bin ich schon wieder an dein Bein gekommen?«, fragte Lise. »Zeig mal, kann man schon einen blauen Fleck sehen?«
    Sie bückte sich zu Bulle hinunter und zischte ihm ins Ohr, aber so leise, dass die Raspa es nicht hören konnte: »In der Karte steht, wir sollen nicht verraten, wohin wir fahren!«
    »Verklag mich doch«, sagte Bulle sauer.
    »Aha, Paris . . .« Die Frau zeigte eine Reihe weißer, spitzer Zähne. »Dort war ich auch einst. Eine schöne Stadt.«
    »Pah, nicht besonders.« Bulle rieb sich ächzend das Bein. »Wir haben uns umentschieden, wir fliegen woandershin.«
    »Ja, warum denn bloß?«, lachte die Raspa heiser.
    »Oktober. Zu viel Regen. Soll Überschwemmungen geben in Paris. Den Parisern wachsen schon Schwimmhäute vor lauter Regen.«
    Die Raspa beugte sich über Bulle und pustete ihm ihren Rohes-Fleisch-und-alte-Socken-Atem ins Gesicht: »Na, so ein Glück, dass diese Uhren wasserdicht sind!«
    »Wa-wasserdicht?«, stotterte Bulle, der in seinem Leben noch nie gestottert hatte.
    »Ja«, flüsterte die Raspa, so leise, dass man
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